Mit dem Radio über das Radio hinaus
Achim Fell/Martin Ganteföhr/Tim Staffel: 39. 2-teiliges „HörSpiel für mobile devices“
WDR 3, Mo 2.2.15 / WDR 1Live, Mo 3.2.15 • jeweils 23.05 bis 23.42 Uhr (Teil 1)
WDR 3, Mo 9.2.15 / WDR 1Live, Di 10.2.15 • jeweils 23.05 bis 23.52 Uhr (Teil 2)
Richard Hannay hat ein Problem. Er liegt mit einer Kugel im Kopf im Krankenhaus und seine Freundin, die Globalisierungsgegnerin Dorit, liegt tot neben ihm. Die Kugeln stammen aus derselben Waffe und das sei zunächst einmal gut für ihn, sagt der Ermittler. Diese eine Bemerkung reicht schon, um das Setting einer feindlichen Umwelt zu etablieren, durch das sich Richard Hanney (gespielt von Roman Knisžka) in „39“, einem zweiteiligen crossmedialen „HörSpiel für mobile devices“, hindurchschlängeln muss. Den Namen Richard Hannay kennt man aus dem Hitchcock-Film „Die 39 Stufen“, der aus dem Jahr 1935 stammt und aus dem das dreiköpfige „HörSpiel“-Autorenteam Achim Fell, Martin Ganteföhr und Tim Staffel einige Motive in sein Stück eingearbeitet hat. Achim Fell, Toningenieur und Mitgründer der Softwarefirma Dear Reality, die die „39″-App entwickelt hat, führte zusammen mit Martin Zylka auch Regie.
Die beiden Folgen des linearen Hörspiels (37 und 47 Minuten lang) liefen im Kulturprogramm WDR 3 und bei der WDR-Jugendwelle 1Live, doch das eigentliche Stück fand nur auf mobilen Endgeräten wie Smartphone oder Tablet statt. Die App für iOS und Android konnte man vor Sendebeginn des linearen Hörspiels herunterladen. Schlauerweise haben die Autoren das Stück im Genre „Mystery-Thriller“ angesiedelt. Da sind geheimnisvolle Löcher in der Dramaturgie kein Mangel, sondern Pflicht – und die Lücken hört man im linearen Hörspiel auch. Aber, und das ist das Entscheidende: Die Leerstellen wurden in der App-Fassung gefüllt.
Anders als das Hörgame „Blowback“ von Elodie Pascal (vgl. MK 2/15), in dem man in den Handlungsräumen verschiedene Aufgaben zu erledigen hatte (Suchen, Rennen, Navigieren), ist man bei „39“ aufgefordert, sich durch die narrative Struktur des Textes zu bewegen. Das hat den Vorteil, dass man bestimmte Levels nicht so lange durchspielen muss, bis man sie bewältigt hat, sondern schlimmstenfalls ein paar Informationen übersehen kann, die einen der Handlungsstränge betreffen.
Auch die Optik des Spiels, die man bei „Blowback“ bis aufs absolute Minimum reduziert hatte, war hier etwas aufwändiger. Die 39 Stufen, die man überschreiten musste, waren in der Regel mit einem Foto illustriert, das man wie durch einen Gazevorhang betrachtete und das über einen leichten 3D-Effekt verfügte. Die 3D-Visualisierungen stammen von dem Düsseldorfer Start-up-Unternehmen redPlant. In 3D waren auch die Sounds, durch die man sich hindurchbewegte und die auch den Lagesensor des Smartphones einbezogen. Wenn man in einer Zugszenerie beispielsweise lange Ohren machen wollte, um ein Gespräch nebenan zu belauschen, reichte es, das Gerät zu kippen. Netterweise wurde man mit einem Symbol darauf hingewiesen, wenn es woanders etwas zu hören gab. Zwischen kleinen Szenen der 39 Stufen erschien immer mal wieder eine Spieluhr, die, wenn man sie durch heftiges Wischen in Bewegung gesetzt hatte, geheimnisvolle Sätze raunte wie: „Die Dinge haben mir den Rücken zugedreht.“
Von ferne erinnerte diese Einbeziehung des Hörers in den Plot an die Hörspielinszenierung von Mark Z. Danielewskis nicht-linearem Roman „Das Haus“, die auf drei WDR-Wellen parallel ausgestrahlt worden war und bei der man sich durch Umschalten in den drei Dimensionen der Handlung bewegen konnte (vgl. FK 51/09). Die Qualität von „Das Haus“ wie auch von „39“ besteht darin, dass die Form mindestens ebenso große Aufmerksamkeit auf sich zieht wie die Handlung. Voraussetzung ist natürlich, dass die Autoren die Regeln des Genres beherrschen – und das waren im Fall von „39“ die des Mystery-Thrillers wie auch die des Storytellings im Radio, um beispielsweise den klassischen inneren Monolog eines physisch geschädigten Bewusstseins mit einer fragmentierten äußeren Realität in Einklang zu bringen. Dass beide Dimensionen zu einer akustischen Einheit wurden, war dem nicht zu unterschätzenden Komposition von Rainer Quade und Ralf Haarmann (Sounddesign Achim Fell, Christian Sander) zu verdanken.
Mörderische Bösewichte, Verschwörungen um einen G8-Gipfel, vom Geheimdienst fingierte Attentate – all das ist vom klassischen französischen Polit-Thriller bis hin zum flachen Action-Kino Hollywoods des öfteren durchdekliniert worden. Die „HörSpiel“-App „39“ ergänzte die reiche Palette der Formen um eine interaktive Dimension, ohne dass diese sich in allzu sehr in den Vordergrund drängte. Mit „39“ wie zuvor auch mit „Das Haus“ sind dem WDR zwei große Schritte mit dem Radio über das Radio hinaus gelungen.
Jochen Meißner – Medienkorrespondenz 4/2015
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