Metadaten der Erinnerung

Christoph Korn, Lasse-Marc Riek: Series invisible – 2004 fortlaufend

SWR 2, Sa, 25.03.2023, 23.05 bis 2.30 Uhr

Was hört man, wenn man nichts hört? Wenn man nur den Hinweis bekommt, dass hier mal etwas zu hören war? Seit 2004 dokumentieren der Medienkünstler Christoph Korn und der Klangkünstler Lasse-Marc Riek auf ihrem Portal „Series invisible“ die Löschungen von Audioaufnahmen. Die gibt es jetzt als Hörspiel – ein paradoxes Unterfangen?

Wer am 25. März auf dem „No Limit“-Sendeplatz der Kulturwelle des Südwestrundfunk SWR 2 zuhörte, wurde ab 23.05 Uhr Zeuge eines nächtlichen Exerzitiums. Aus dem Webprojekt „Series invisible“ des Medienkünstlers Christoph Korn und des Klangkünstlers Lasse-Marc Riek wurde unter dem Titel „Series invisible – 2004 fortlaufend“ ein dreieinhalbstündiges Hörspiel.

Der Aufbau des Hörspiels ist minimalistisch. Eine weibliche und eine männliche Stimme (Caroline Junghanns und Ole Lagerpusch) verlesen im Wechsel die sogenannten Löschnotate von Audioaufnahmen. Die Struktur des Verzeichnisses ist immer gleich: Erst wird der Titel der Aufnahme definiert (manchmal mit wenigen kommentierende Worten), dann folgen Datum und Ort der Aufnahme, danach das Löschdatum und die Dauer der Aufnahme. Nach einer Pause von fünf Sekunden wird das nächste Löschnotat verlesen.

Mal sind die Orte identifizierbar wie das Denkmal der ermordeten Juden in Berlin im Eintrag:

Stelenfeld, Berlin.
Aufnahme: 17.03.2007, 17.28 Uhr, Berlin.
Gelöscht am 13.08.2007, 16.33 Uhr.
Dauer der Aufnahme: 9’42“

Mal werden sie und das, was man eben nicht (mehr) hören kann, genauer beschrieben:

Waldgebiet (durch den Wald hindurch, vom Truppenübungsplatz der Kyffhäuser-Kaserne her, Maschinengewehrfeuer).
Aufnahme: 16.10.2021, 13.12 Uhr, An der Lehmkuhle, Kannawurf.
Gelöscht am 22.10.2021, 9.55 Uhr.
Dauer der Aufnahme: 2’55“

Andere Aufnahmen werde durch ihre Ortsbezeichnung mit Bedeutung aufgeladen, wie der „Ort der Ermordung von Benno Ohnesorg am 2. Juni 1967“, in der Berliner Krumme Straße 66/67, andere bleiben unspezifisch wie diverse Privatwohnungen oder Waldstücke, in denen Aufnahmen gemacht und später wieder gelöscht wurden.

Wer mit dem Werk von Christoph Korn vertraut ist, weiß, dass mit einem bestimmten „Waldstück“ (HR 2009) eine Lokalität in der Nähe des Konzentrationslagers Dachau gemeint ist, dessen 24 Stunden lange Aufnahme über einen Zeitraum von drei Jahren zufallsautomatisch gelöscht wurde, so dass die grafische Hüllkurve und der Sound von immer mehr Weißraum unterbrochen wurden, bis nurmehr das Weiß als Erinnerung an die Aufnahme als Dokument ihrer Löschungen übrig blieb.

Ähnlich verfuhr Christoph Korn in seinem Stück „Hiobs Verstummen“ (SWR 2021), einem 12-minütigen wütenden Monolog von Caroline Junghanns, in dem die Auslöschung des Mondes, des Tages, die Klage et cetera beschworen wurden. Die Arbeit, die als Webprojekt, Kunst-Installation und Hörspiel realisiert wurde, wurde über den Zeitraum von 93 Tagen nach und nach von einem Zufallsalgorithmus gelöscht, bis von den Exaltationen des in Großaufnahme gefilmten schweißbedeckten Gesichts von Caroline Junghanns nur noch eine weiße Fläche übrig blieb.

Es sind nicht nur historisch aufgeladene Orte, die von Korn und Riek aufgesucht, aufgenommen und gelöscht wurden, es sind auch private Orte wie beispielsweise das Grab von Walter Korn in Jossgrund/Oberndorf, das immer wieder aufgesucht wird. Es ist das Grab von Christoph Korns Vater. Metadaten, die trotz der unsichtbar (beziehungsweise unhörbar) gemachten Inhalte eine Rekonstruktion von Lebenslinien möglich machen, können trotz ihrer Abstraktion berühren.

Denn so abstrakt die Struktur auch sein mag, so konkret geben sie Antwort auf die „Tatort“-notorische Frage: Wo waren sie am … um … Uhr? Insofern stehen die „Series invisible“ in einer Reihe mit dem datengetriebenen (und mit dem Hörspielpreis der Kriegsblinden ausgezeichneten Hörspiel) „Stripped – ein Leben in Kontoauszügen“ von Stefan Weigl. Aus der Verlesung seiner Kontobewegungen entsteht ein ziemlich genaues Bild einer prekären Existenz bis zu ihrem Ausschluss aus dem Finanzsystem durch die Löschung des Kontos.

Beim Hören der etwa 400 Löschnotate von Christoph Korn und Lasse-Marc Riek, die zwar ohne ‚Schauspielbedarf‘, aber auch nicht pur nachrichtlich verlesen werden, ergibt sich nach und nach eine Verschiebung der Aufmerksamkeit. Mal interessiert man sich für die zeitliche Distanz zwischen der Aufnahme und ihrer Löschung, die von wenigen Minuten bis zu mehreren Wochen reicht, mal sind es die Längen der gelöschten Aufnahmen, die wenige Sekunden, aber auch mehrere Stunden umfassen können, die in den Fokus geraten.

Das erfordert eine hohe meditative Aufmerksamkeit, um die im linearen Medium flüchtigen Daten in Beziehung zu setzen. Der mediale Transformationsprozess ist dreiteilig: von der Aufnahme und ihrer Löschung über ihre schriftliche Fixierung zurück ins akustische Medium. Inwieweit die Löschprozesse händisch vorgenommen (wurden sie) oder zufallsautomatisiert vollzogen wurden (wurden sie nicht), bleibt offen. Ebenso ob die Aufnahmen vor ihrer Löschung abgehört wurden (wurden sie). Neben ihrer Dokumentation im Netz sind die Löschnotate auch gedruckt beim Label Gruenrekorder erschienen, das auch eine zehn CDs umfassende Edition der „Series invisible“ veröffentlichen wird. Dort entsprechen die Pausen der Länge der gelöschten Aufnahmen.

Wer wissen will, was auf den gelöschten Aufnahmen zu hören war, wird auf der Vimeo-Seite von Christoph Korn fündig, auf der ein paar Videos seiner Feldaufnahmen zu sehen und zu hören sind. Außerdem finden sich dort ein paar dokumentarische Videoclips über die Arbeiten von Korn. Die Aufnahmen selbst sind meist unspektakulär und sagen wenig über das Verhältnis von Vergänglichkeit und Erinnerung aus, die das Stück „Series invisible“ thematisiert. Wichtig sind nicht in erster Linie die Inhalte, sondern die Spuren, die sie – vermittelt über ihre Löschung – hinterlassen.

PS: Auch im Hörspiel haben Löschlisten eine gewisse Bedeutung. Der ‚Hörspielpapst‘ des alten Hörspiels, Heinz Schwitzke, ließ große Bestände der Hörspiele, die vor seiner Zeit als Leiter der Hörspielabteilung des Norddeutschen Rundfunks wurde, löschen. Die Löschlisten sind erhalten und verweisen auf den willkürlich verursachten Verlust.

Jochen Meißner – KNA Mediendienst, 30.03.2023

 

 

 

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