Konforme Exzesse
Ludwig Abraham: Perlen
Deutschlandfunk Kultur, 25.02.2024, 18.30 bis 19.35 Uhr
Aus der Distanz von ein paar hundert Jahren fragt sich der Komponist und Theatermusiker Ludwig Abraham in seinem ersten Hörspiel, wer wir waren und wie man die Gegenwart ausgehalten hat. Das gelingt sprachlich wie musikalisch ohne die Larmoyanz der Dystopie.
Während in der Welt von Ludwig Abrahams 65-minütigem Hörspiel „Perlen“ große Probleme bereits am Horizont zu erkennen waren, wusste man sich noch mit den Lösungen kleinerer Fragen zu beschäftigen. Die meisten Bewohner dieser Welt „lebten gemütlich von der Arbeit für einen der zehn großen Konzerne, die findige und umtriebige Leute vor langer Zeit gegründet und deren Wohlergehen die Politik sich selbst zum obersten Ziel gesetzt hatte“, heißt es in dem Stück.
Doch in den Kästen aus Glas und Stahl, zwischen denen man Grünflächen angelegt hatte, stellt sich die Frage nach dem Umgang mit der Gegenwart, die durch das Verlangen nach Sicherheit, Effizienz und der Ziehung von territorialen und gesellschaftlichen Grenzen dominiert wurde. Der Ton im Hörspiel des Komponisten und Musikers Ludwig Abraham ist ein melancholischer, einer, der aus der Distanz von ein paar hundert Jahren fragt, wer wir waren.
Fünf erzählerische Blöcke, gesprochen von Karin Pfammatter, gliedern das Stück. Dazwischen stehen vier Figuren, die beziehungslos, aber irgendwie unterirdisch miteinander verbunden sind. Zugleich sind alle vier mit einer fünften Figur, Morten, verbunden, der sich aber schon aus dem Staub gemacht zu haben scheint.
Da ist Lily (Banafshe Hourmazdi), die in einem zum Schutz vor den Blicken neugieriger Passanten mit blauer Folie verklebten Laden arbeitet, in dem mit Bildschirmen ausgestattete Kabinen auf ihre Kundschaft warten. „Die Funktion des Ladens war einmal“, kommentiert Lily, bevor sie ihr „digital gesteuertes Rauchgerät“ zur Hand nimmt, um erst einmal Pause zu machen, bevor sie den Laden dann endgültig schließt und in einem feuchten Kellerloch verschwindet.
Und da ist Kai (Aysima Ergün), Lastwagenfahrerin, die auf einem Autohof eine unfreiwillige sexuelle Begegnung mit Mercedes (Paul Zichner) hat, von der man nicht weiß, wie sie ausgeht. Es geht um das, was die Erzählerin kurz zuvor den Exzess als Ausgleich zur alltäglichen Konformität bezeichnet hat, „bei dem die Grenzüberschreitung bereits ins Ergebnis eingepreist war“. Spaß macht das niemandem, und wer von den Beiden auf der Strecke bleiben wird, ist offen.
Remy (Jörg Pose) arbeitet in einer Druckerei, auch so einer Branche, die, ebenso wie die Sexshops aus dem Weichbild der Städte verschwinden oder aus Industriegebieten verdrängt werden, wenn sich die Reparatur der Maschinen nicht mehr rechnet. Auch Remy wird sich aus der Welt verabschieden, indem er sein Mobiltelefon vernichtet.
Ola Haug (Julia Riedler) schließlich, Praktikantin mit Hochschulabschluss bei einem Staatssekretär der Regierungspartei und die einzige Figur mit einem Nachnamen, ist das Hassobjekt der Sekretärin. Denn sie will Karriere machen und fällt in der auf Anpassung und Disziplinierung ausgerichteten Welt der Verwaltung zu sehr auf. Auch sie will, dass das alles aufhört.
Zusammen mit Emily Wittbrodt am Cello und Linus Bernoulli am Horn hat Komponist Ludwig Abraham (Jahrgang 1986), den man hier erstmals als Hörspiel-Autor entdecken kann, ein Sounddesign geschaffen, das die Innen- und Außenräume der Stadt sorgfältig einfängt und gestaltet und deren erzählerische Bedeutung kaum zu überschätzen ist. Der Chor der Schauspielerinnen, die zu Beginn den Refrain des 90er-Jahre-Hits „Waterfalls“ des amerikanischen Hip-Hop-Trios TLC singt und eine 8-Bit-Version von Britney Spears‘ Hit „Toxic“ verorten die Handlung des Hörspiels zwischen 1994 und 2004, bleiben aber die einzigen popkulturellen Referenzen.
Vorrangig sind es Ludwig Abrahams Sätze, die irgendwo im Niemandsland zwischen Sibylle Berg und Roger Willemsen angesiedelt sind, die dieses Hörspiel zu einer Entdeckung machen. Warum das Stück „Perlen“ heißt, wird in einem Text der Erzählerin über Tiere aufgedeckt. Darin geht es um die Flussperlmuschel, die die Fähigkeit hat, auf eine spezifische Art und Weise mit Wunden und Fremdkörpern umzugehen. An ihnen lagert sie Schicht um Schicht Kalziumcarbonat ab – das Schöne entsteht als Folge einer Verletzung. Nach der kompletten Ausrottung der Flussperlmuschel ist man auf Zuchtperlen als das synthetische Schöne angewiesen.
Warum das Hörspiel auf der Website von Deutschlandfunk Kultur allerdings mit dem Label „Fantastik“ ausgepreist wurde, wissen wohl nur die SEO-Strategen des Senders. Wahrscheinlich klang ihnen die Gattungsbezeichnung „Mystery“, mit der die ARD seit Anfang 2023 flächendeckend ihre Sendeplätze bespielt und auf Steigerung der Marktanteile hofft, noch eine Idee unpassender.
Jochen Meißner, KNA Mediendienst, 29.02.2024
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