Komplexe Verwandlungen
Sébastien David: Goldmädchen
SR 2, So, 04.06.2023, 17.04 bis 18.23 Uhr
DLF Kultur, Mi, 07.06.2023, 22.03 bis 23.00 Uhr (Kurzfassung).
Neben dem titelgebenden „Goldmädchen“ sind „Erdmädchen“, „Doppelgängermädchen“ und „Pixelmädchen“ die Protagonistinnen im Hörspiel des franko-kanadischen Dramatikers Sébastien David, das der Saarländische Rundfunk als Livehörspiel (Ausschnitt hier) und als Studioversion realisiert hat.
Wenn eine Finanzanalystin eines Morgens aufwacht und alles, was sie berührt, zu Gold wird, dann ist das in Sébastien Davids 79-minütigem Hörspiel „Goldmädchen“ keine Metapher, sondern die pure Realität. Wenn man es denn als Realität akzeptiert, dass sich das mythische König-Midas-Motiv in der profanen Gegenwart ereignen kann. Während das „Goldmädchen“ (Inka Löwendorf), nachdem es ihre Sekretärin in Gold verwandelt hat, sich von den Menschen so weit wie möglich fernhalten will, geht das „Erdmädchen“ (Effi Rabsilber) den umgekehrten Weg. Nachdem es sich den Weg aus ihrem Grab im Wald gebahnt hat, macht es Party in der Diskothek „Hades“ bei DJ Dionysos und wird zu einer Berühmtheit.
Das „Pixelmädchen“ (Bettina Kurth) hingegen findet sich nach etwas zu exzessivem Online-Shopping in der angefüllten Leere des Internets wieder. Auch sie hat eine Beziehung zur Unterwelt, denn sie hat ihre Tochter Proserpina (Aliyah Hamza) genannt – nach der Gattin des römischen Totengottes. Das „Doppelgängermädchen“ (Katharina Leonore Goebel), eine erfolglose Autorin, trifft auf gleich mehrere Dutzend Versionen ihrer selbst. Das kommt zwar ihrer Produktivität beim Theaterstückschreiben zugute, nicht aber unbedingt der Qualität des Textes.
„Goldmädchen“ (im franko-kanadischen Original „Une fille en or“ übersetzt von Frank Weigand) wurde am 17. November 2022 beim Festival „Primeurs“ in Saarbrücken als Livehörspiel aufgeführt und gesendet und anschließend im Studio nachproduziert. Es ist nach „Schwingungen“ („Les haut-parleurs“) aus dem Jahr 2017/18 das zweite Theaterstück von Sébastien David, das der Saarländische Rundfunk wieder in Zusammenarbeit mit Deutschlandfunk Kultur als (Live-)Hörspiel produziert hat.
Es ist nicht in erster Linie der mythologische Hintergrund der Figuren, der hier interessiert, sondern es sind die Urelemente Feuer, Wasser, Erde und Luft, die man den Akteurinnen zuordnen kann und die sich in komplexen Relationen ineinander verwandeln können. So wirft sich Erdmädchen vor eine Schneefräse, nachdem eine 13-jährige sich vom Balkon gestürzt hat, um ebenso unsterblich zu werden wie ihr Idol, die Zombiefrau mit der Made im Auge. Doch der dionysische Zerreißungsprozess beendet ihre Existenz nicht, sondern transformiert sie zu einem wässrigen Schnee- und Fleischgemisch, das das Echo ihrer ersten Worte nach der Auferstehung in die Welt trägt.
Doch auch als Regen kann Erdmädchen den Theaterbrand, den Doppelgängermädchen gestiftet hat, nicht löschen, dazu braucht es Goldmädchen. Gold ist chemisch zwar keine „seltene Erde“ aber ein Übergangsmetall. Und so metaphorisch diese Zuordnung daherkommt, so selbstreflexiv fragt sich Goldmädchen im Stück, ob es eine Metapher sei. Ihre Transformation ist eine Erstarrung und ihre letzte Entscheidung ist, in welcher Pose sie zu ihrer eigenen Statue werden will. Bleibt noch Pixelmädchen, die sich zwischenzeitlich in einen Virus verwandelt hatte, der zeitweise das Internet gelöscht hat, deren Existenz sich aber schließlich im Ätherischen des fünften Elements fortsetzen wird – in der Musik der Grungerockband Nirvana.
„Something in the way“ von Nirvana ist nicht der einzige Signature-Song, den die Figuren haben. Beim Erdmädchen ist es, wie könnte es auch anders sein „Thriller“ von Michael Jackson und Doppelgängermädchen nimmt sich Fleetwood Macs Devise „Go your own way“ zu Herzen. Der Rest des Stückes wird von elektronischen Klangflächen von Albrecht Ziepert untermalt. Martin Engler als Erzähler und Interviewer führt durch das Stück. Regisseurin Anouschka Trockers Inszenierung stand vor der Herausforderung, Figuren zu ihren eigenen Umwelten werden zu lassen. Das ist nicht einfach und nach dieser Inszenierung mag man es sich kaum auf einer Theaterbühne vorstellen.
Jochen Meißner – KNA Mediendienst, 08.06.2023
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