In zukunftslosen Innenräumen
FALKNER: Manifest 59 / Flächenmensch Flächenmensch die Festung Welt
ORF Ö1 Kunstradio, Sonntag, 05.02.2023. 22.00 bis 23.00 Uhr.
In einer Welt, die nicht mehr stimmt, hat sich die Hauptfigur Ines in FALKNERs Hörspiel „Manifest 59 / Flächenmensch Flächenmensch die Festung Welt“ in die Isolation zurückgezogen. Nun steht ihr nur noch ihr Spiegelbild gegenüber und ein Hirsch als Gesellschaft.
Der erste Schrei ist der eines Erschreckens. Es ist ihr Bild im Spiegel, das Ines kaum wiedererkennt. Vielleicht ist es aber auch die Erkenntnis, dass Ich ein Anderer ist oder hinter dem Spiegel eine andere Welt existiert. Beides gehört zum Inventar moderner Identitätskonstruktionen und Weltverhältnisse. Im neuen Hörspiel von Michaela Falkner, die sich für ihre künstlerischen Werke FALKNER in Versalien nennt und sämtliche Werke als Manifeste verfasst, ist die Außenwelt dystopisch und die Innenwelt verspiegelt.
Wenn das 52-minütige Hörspiel „Manifest 59 / Flächenmensch Flächenmensch die Festung Welt“ beginnt, liegt die Katastrophe bereits ein Jahr zurück. Ines, die Hauptfigur, gesprochen von Mavie Hörbiger, hat im Rahmen eines kollektiven Suizides von 53 Jugendlichen ihren Sohn Georg verloren: „Sie haben uns schließlich zurückgewiesen. Wir dachten, sie gäben uns noch Aufschub, wir ahnten nicht, wie ernst es ihnen wäre.“ Seit diesem Akt der Weltverweigerung hat sich Ines isoliert und wird von ihrer Schwester mit Nahrungsmitteln versorgt, während ein Hirsch ihr Gesellschaft leistet. Denn während „der Mitmensch“, nicht mehr existiert, „planiert“ und „abgeschafft“ ist, ist ein Tier als Ersatz erlaubt, aber immer nur eines.
Konsequenterweise ist das Stück ein großer Monolog, auch wenn sich Ines zeitweise an einem Dialog mit ihrem Spiegel versucht: „Ich bin kein Flächenmensch“. Natürlich antwortet ihr das Spiegelbild nicht, auch wenn sie es mit ihrem etwas manieriert auf der zweiten Silbe betonten Namen „Inés“ anspricht. Ob der Spiegel als Zeuge fungiert, oder sich ihn ihm ein Monster verbirgt, bleibt offen. Wahrscheinlich ist es beides, aber seine Zeugenschaft bezieht sich nicht auf Vergangenes, sondern findet naturgemäß nur synchron in Echtzeit satt. Auch die Zukunft kann ihr der Spiegel nicht zeigen, denn die Zeit ist im Moment des Todes ihres Sohnes stillgestellt. Es soll nur noch ein ritualisiertes Gedenken am Jahrestag des Ereignisses begangen werden („eine hohle Übung frei von Rechenschaft“), obwohl beziehungsweise, weil die Gesellschaft über die Ursachen schweigt.
„Es sagt mir nichts, das sogenannte Draußen“ war der Untertitel des Theatertextes „Und jetzt: Die Welt!“ (Kritik hier), mit dem Sibylle Berg 2016 den Hörspielpreis der Kriegsblinden gewonnen hatte. Das Stück war der erste Teil einer Tetralogie, die mit dem Stück „Und sicher ist mit mir die Welt verschwunden“ endete (Kritik hier). FALKNERs Hörspiel bewegt sich in einem ähnlichen Rahmen – in zukunftslosen Innenräumen. Das Stück endet mit einem Schmerzensschrei. Ines will die „völlig entgleiste“ Welt nicht mehr sehen müssen und sticht sich mit dem Geweih des Hirsches die Augen aus.
Denn ganz so isoliert, wie es sich die vergeblich auf die Rückkehr ihres Sohnes wartende Ines vorgestellt hat, ist ihr Leben nicht. Bevor es zur drastischen Abkehr von der Welt kommt, werden ihr nach dem Tod des Hirschen immer neue verletzte Tiere vor die Tür gelegt. Irgendwann erscheint sogar ein Etwas, das wohl mal ein Mensch war, der sogenannte Überläufer, in ihrem Zimmer. So alptraumhaft die Szenerie ist – man denkt unwillkürlich an das Hörspiel „Das unsichtbare Dritte“ von Albrecht Kunze (SWR 2020), (Kritik SZ, Kritik hier) das in einem ähnlichen angstbesetzten Setting spielt -, so leicht lassen sich Bezüge zur gegenwärtigen Verfassung der „Festung Welt“ erkennen.
FALKNER interessieren emotionale Räume und Körper anstelle von physischen Räumen und realistischen Körpern, kann man in der Ankündigung des Hörspiels lesen. In ihrem aktuellen Werk führt das dazu, dass sich anders als in den Vorgängerstücken das Spiel von Mavie Hörbiger unter der Regie der Autorin des Öfteren vor den Text schiebt. Das irritiert manchmal und schmälert die Wirkung. Ebenso überlebensgroß und unrealistisch – also hyperrealistisch – sind die Geräusche, die das Stück strukturieren, wie beispielsweise die des röhrenden Hirsches, bei dem der Toningenieur selbst ran musste, wie Michaela Falkner in einem Gespräch verraten hat.
Aber platten Realismus erwarten man bei Stücken, die auf dem sonntäglichen Kunstradio-Termin der ORF-Kulturwelle Ö1 laufen, sowieso nicht. Zusammen mit anderen Formaten sollte der Termin im letzten Jahr abgeschafft werden, um Einsparungen von vergleichsweise lächerlichen 900.000 Euro zu erreichen. Aufgrund des Widerstands von Belegschaft und Hörern hat der Termin etwas gerupft überlebt. Stücke wie die von Michaela Falkner sind aber die Legitimationsgrundlage für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Denn der muss eben genau das anbieten, was im werbefinanzierten Privatfunk nicht vorkommt.
Jochen Meißner – KNA Mediendienst, 09.02.2023
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