Im Bett in Studio 2
Walter Filz: Irrealis Futur II. Es würde geschehen sein. Eine Revue künftiger Zeitenwenden
ARD-Kulturwellen, So 03.082014, 22.30 bis 0.00 Uhr
Es war 1991, als Walter Filz „die Beharrlichkeit der Zukunft von gestern“ suchte und in seinem Feature „Kein Requiem für Captain Kirk“ im Kölner U-Bahn-System Strukturanalogien zur Teleportationstechnik des Beamens fand. Das Stück war so inspirierend, dass Filz 1995 sogar einen Remix machte, diesmal mit dem nicht unberechtigten Untertitel „Über die Zähigkeit der Zukunft von gestern“. Was popkulturelle Visionen angeht, kennt sich Walter Filz also aus, und so durfte man nun auf die „Revue künftiger Zeitenwenden“ gespannt sein, die von den Kulturradiowellen aller neun ARD-Landesrundfunkanstalten im Rahmen des als „ARD-Radiofestival“ etikettierten jährlichen sommerlichen Sparprogramms übertragen wurde.
Doch Walter Filz, inzwischen Chef der Feature-Abteilung beim Hörfunk des Südwestrundfunks (SWR), scheint der Zukunft müde geworden zu sein. So müde, dass der die Sendung gleich aus dem Bett wegmoderiert. Einem Bett, das seit den fünfziger Jahren im Studio 2 des SWR in Baden-Baden steht und „dessen Sprungfedern nach Wirtschaftswundersex klingen“. Der eine ziemlich lustlose Angelegenheit gewesen sein muss, wenn man darauf von der 90-minütigen Revue „Irrealis Futur II“ rückschließen darf.
Als sieben- bis achtjähriger Junge habe sich der kleine Walter, so hören wir, sein Bett als Raumgleiter imaginiert, doch zu Reisen in phantastische Welten sei es nie gekommen. Schon damals erlebte er ein Defizit an Zukunft. Ein Defizit, das Walter Filz auch nach 1990 feststellte, als wider Erwarten zwar noch Geschichte gemacht wurde, er aber zukunftweisende Ideen vermisste. Und auch als zur Jahrtausendwende der sogenannte Millennium-Bug in der Datumsverwaltung der Computertechnik sich als leerer Hype entpuppte, gab es einen apokalyptischen Grusel weniger.
Kein Grund also, das Bett zu verlassen. Weil Zukunft sowieso passiert und vom Einzelnen nicht zu gestalten sei – auch wenn Filz wehmütig den Song der Anarchorocker von Ton Steine Scherben mitsingt, der da lautet: „Alles verändert sich, wenn du es veränderst“. Doch bis es so weit gekommen ist, hat man schon eine gute Stunde retrofuturischer Prognosen hinter sich. Bis 2071 gibt es für jedes einzelne Jahr irgendeine Prognose, danach erhöhen sich die zeitlichen Abstände. Die meisten Vorhersagen sind negativ. Warum? Aus dramaturgischen Gründen natürlich, weshalb sie auch genau datiert werden müssen, denn das erzeugt Spannung.
Manche Vorstellungen sind aber auch eher sachlich. So hat sogar ein Kreisverband des Verkehrsclubs Deutschland (VCD) eine „Warendorfer Vision 2026“ – die die Bahnanbindung nach Münster und Bielefeld betrifft. Die anderen Visionen, die nummernrevueartig nach Jahren gestaffelt sind, sind eher langweilig, weil sie entweder nur fortschreiben, was man aus den gegenwärtigen Verhältnissen ableiten kann, oder weil sie apokalyptischen und dystopischen Mustern folgen: Krankenkassenbeiträge bei 27,5 Prozent, Dürren in Spanien, Hungerkatastrophen in China, Meteoriteneinschläge mit globalen Folgen anno 2029 und so weiter und so fort. Nur in homöopathischen Dosen verirren sich interessante Informationen in die Unterhaltungssendung, unter anderem die, dass 2028 der ehemalige Staat Tschechoslowakei, das heißt der Teil, der heute die Tschechische Republik ist, seinen Zugang zum Meer verliert. Denn als eine Folge des Ersten Weltkriegs sind 28 000 Quadratmeter des Hamburger Hafens der tschechischen Binnen(!)schifffahrt vorbehalten.
Zwischen die einzelnen Revuenummern sind Interviews geschnitten, die Walter Filz an die Geschichtsstudentin Ariane Dreisbach (Jahrgang 1991) delegiert hat, die mit der Altenpflegerin und Buchautorin Kathrin Pläcking spricht, die ein Rentensystem mit eingeplantem Freitod beschreibt. Ein Sozialwissenschaftler erklärt die Sinnlosigkeit eines Fluchverbots anhand des Science-Fiction-Films „Demolition Man“ und ein Astrophysiker erzählt, dass sich auf der Erde nicht groß etwas ändern würde, wenn der Mond verschwände – außer dass die Astronomen endlich freie Sicht auf die Sterne hätten.
Das einzige disruptive Ereignis, das Filz erwähnt, ist der 11. September 2001, seither regiere nur noch die Gegenwart. Doch man hat den Verdacht, dass auch ohne die Anschläge in New York und Washington das Reizklima von Baden-Baden irgendwelchen Zukunftsvorstellungen eher abträglich ist und man das Bett besser gar nicht erst verlässt. Walter Filz erhebt sich schlussendlich nach dem Abspann seiner Revue doch noch von seinem Lager im Studio 2. Das lässt zumindest hoffen.
Jochen Meißner – Funkkorrespondenz 32/2014
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