Hörspiel des Monats März 2022
All right. Good night.
von Helgard Haug (Rimini Protokoll)
Regie: Helgard Haug
Komposition: Barbara Morgenstern
Redaktion: Martina Müller-Wallraf
Produktion: WDR
Länge: 54:00 min.
Ursendung: 20.03.2022, WDR 3
Die Begründung der Jury
Das Hörspiel „All right. Good night“ der Autorin und Regisseurin Helgard Haug des Performancekollektivs Rimini Protokoll möchte das Unfassbare fassbar machen. Unfassbar zum einen ist das heute noch unaufgeklärte Verschwinden der Maschine des Flugs MH 370 der Malaysia Airlines von Kuala Lumpur nach Peking im März 2014 – mit seinen insgesamt 239 Todesopfern. Unfassbar zum anderen ist der schleichende Prozess der „Volkskrankheit“ Demenz, der Erkrankte wie Angehörige gleichermaßen betrifft und auch zeichnet, körperlich wie psychisch.
Auf der einen Seite steht die Geschichte einer einzelnen Person im Vordergrund. Es handelt sich um den Vater der Autorin, dessen vor etwa acht Jahren festgestellte Demenzerkrankung und der persönliche Umgang mit dieser Krankheit: ein Schicksal, das allein in Deutschland millionenfach geteilt wird. Der schleichende und unaufhaltsame Krankheitsprozess kommt in persönlichen Notizen und Beobachtungen zum Ausdruck: „Er [der Vater] schreibt: ‚Stellt mir bitte direkt die Fragen, die ihr habt, ich möchte in der Krankheit nicht untergehen und ein unselbstständiges Objekt werden. Ich bitte Euch um Nachsicht für meine Fehler und Patzer, geht bitte erst einmal davon aus, dass es nicht Absicht ist, sondern Folge der Krankheit oder Ausdruck meiner Verwirrung und der Scham darüber.‘“
Auf der anderen Seite steht das kollektiv erfahrene Unglück der beim Flugzeugabsturz umgekommenen Personen im Vordergrund sowie exemplarisch die Suche eines Angehörigen, der dabei seine Familie verlor, nach Wahrheit, nach Gewissheit: „Ghyslain Wattrelos schreibt seiner verschollenen Frau und seinen Kindern. Nachrichten. Täglich. Täglich. Vielleicht empfangen sie ja diese Nachrichten, dort, wo sie jetzt sind, sagt er.“
Jene scheinbar unvereinbaren Erzählstränge werden im Hörspiel „All right. Good night“ von Helgard Haug mal parallel geführt, mal intelligent miteinander verknüpft und gleichberechtigt ineinander verwoben. Es werden darin Themen wie Vergessen, Verschwinden oder auch Verantwortung verhandelt. Die Balance zwischen nüchterner, sachlicher Beschreibungen und der Darstellung des Kampfs der einzelnen Personen gegen das Verschwinden und Vergessen wird im Laufe des Stücks nahezu immer ohne allzu großes Pathos gewahrt – verstärkt von der sehr präsenten, einem Requiem gleichenden Musik (Komposition: Barbara Morgenstern).
Der Text, die Musik und die Stimmen des Sprecherinnen-Ensembles erzeugen letztlich beim Hören einen starken Sog, dem man sich als Hörer*in nicht entziehen kann. Blickt man zudem auf die bisherigen Theater- und Radioarbeiten von Helgard Haug und Rimini Protokoll zurück, vollzieht sich mit diesem Stück ein bemerkenswerter Perspektivwechsel. Nicht außenstehende Expert*innen des Alltags sind hier im Fokus, sondern es ist die persönliche Perspektive der Autorin und Regisseurin, die nun – gleichsam als Expertin des Alltags – den größten Raum der Erzählung einnimmt. Dem Stück gelingt es, Unbegreifliches, nicht oder nur kaum Nachvollziehbares in eine konkrete und klare Sprache zu überführen; ihm gelingt, den Hinterbliebenen und Angehörigen, den Zurückgelassenen in ihren Auseinandersetzungen Raum und Ausdruck zu verleihen. Die Jury zeichnet daher „All right. Good night“ als Hörspiel des Monats März aus.
Eine lobende Erwähnung spricht die Jury für das Hörspiel „Tod – was soll das?“ der Autorin und Regisseurin Gesche Piening aus: einerseits aufgrund der in dem hervorragend montierten Text eingenommenen Perspektive der (ehemaligen) Kinder, die aus Erwachsenen- bzw. Heranwachsenden-Sicht auf das Tabuthema „Umgang von Kindern mit dem Tod nahestehender Personen“ zurückblicken; andererseits aufgrund der sehr bemerkenswerten Leistung des Sprecher*innen-Ensembles.
Das Hörspiel des Monats wird am 07.05.2022 um 20.05 Uhr im Deutschlandfunk (DLF) wiederholt.
Die Nominierungen
BR, Emma Braslavsky: Die Nacht war bleich, die Lichter blinken
DLF, keine Nominierung
DLF Kultur, Gesche Piening: Tod – was soll das?
HR, Elisabeth Weilenmann: Leck mich!
MDR, keine Nomierung
NDR, keine Nominierung
RB, keine Nominierung
RBB, Heiko Michels (nach Friedrich Wolf): Funken der Liebe
SR, keine Nominierung
SWR, Wolfram Lotz: Die Politiker
WDR, Helgard Haug: All right. Good night.
ORF, Natascha Gangl: La manzana mexicana oder Burros in Mexiko. Über das Eigenleben der Worte
SRF, keine Nominierung
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