Hörspiel des Monats April 2020
türken, feuer
von Özlem Özgül Dündar
Regie: Claudia Johanna Leist
Komposition: Schneider TM (Dirk Dresselhaus)
Dramaturgie: Gerrit Booms
Produktion: WDR
Länge: 53:28
Erstsendung: WDR 3, 18.04.2020
Die Begründung der Jury
„alles hat eine ganz bestimmte stückzahl und meine füße kennen nur noch diesen einen weg mit dieser einen stückzahl und er führt ins feuer“. So spricht eines der Opfer des rassistischen Brandanschlags von Solingen am 29. Mai 1993, die im Hörspiel „türken, feuer“ von Özlem Özgül Dündar eine Stimme bekommen. Es sind ausschließlich Frauen, die sprechen. In einer Sprache, deren poetische Bilder so dosiert und präzise sind, dass sie das Geschehen mit einem Höchstmaß an erschütternder Intensität vergegenwärtigen.
Ein Albtraum made in Germany. Sein Drehbuch lautet: Deutsche töten „Andere“ durch Feuer. 1992 bildeten Rostock-Lichtenhagen und Hoyerswerda den Auftakt einer rassistischen Anschlagsreihe in der Bundesrepublik. Jahrzehntelang nährten sie den für den Westen der Republik so bequemen Mythos, rassistische Gewalt sei vor allem ein ostdeutsches Problem. Nahezu völlig aus der kollektiven Erinnerung verdrängt wurden die ersten rassistisch motivierten Brandanschläge in Westdeutschland, in Mölln 1992 und eben in Solingen 1993.
Es ist ein großes Verdienst dieses Hörstücks, dass es dem Vergessen und der Verdrängung dieser Verbrechen entgegentritt. Es legt damit den Finger in die klaffende Wunde des Totalversagens einer Gesellschaft, die die wirklichen „Alarmzeichen“ einer Entwicklung, die bereits vor drei Jahrzehnten begann, bis heute weitestgehend ignoriert oder mindestens grob verharmlost.
Am 29. Mai 1993 zündeten vier junge vier junge Männer deutscher Abstammung in Solingen ein Haus an, in dem mehrere Familien türkischer Abstammung lebten. Fünf Menschen kamen durch den Brandanschlag ums Leben, darunter die 27-jährige Gürsün Inçe. Sie opferte sich für ihre dreijährige Tochter, indem sie mit ihr aus dem Fenster sprang und so fiel, dass das Kind überlebte. Im Hörspiel des Monats April 2020 lässt die Autorin Özlem Özgül Dündar, selbst 1983 in Solingen geboren, unter anderem diese Mutter zu Wort kommen und schildert das schreckliche Ereignis aus ihrer Perspektive. Diese intensive Innenschau der Gedankenwelt hat für die Betroffene den Effekt, dass sie nicht in der passiven Opferrolle verharrt, sondern zur aktiv Handelnden wird: das Erzählen als Selbstermächtigung gegen Vergessen, Rassismus, aber auch stereotype Geschlechterrollen.
Dem herausragenden Sprecherinnen-Ensemble gelingt es unter der Regie von Claudia Johanna Leist und subtil unterstützt durch die atmosphärische Spannung der Musik von Dirk Dresselhaus, den Toten, den traumatisierten Überlebenden, aber auch der Angehörigen eines mutmaßlichen Täters eine Stimme zu geben. In größtmöglicher Dringlichkeit konfrontiert das Hörspiel sein Publikum damit, wie es den Opfern rassistischer Gewalt ergeht. Anstatt jedoch bei sich selbst zu verharren, treten diese unterschiedlichen weiblichen Stimmen miteinander in Dialog und vollziehen so den Perspektivwechsel, der dieses Stück so herausragend macht:
„ich möchte mit dir sprechen ich möchte mit dir sprechen auch wenn ich keine stimme in diesem stück oder irgendeinem stück bekomme auf die straße will ich gehen und mit dir sprechen in einem raum der nicht hier ist in diesem stück wo alle uns hören ich möchte mich mit dir unterhalten mich mit dir austauschen ich möchte mehr reden mit dir mit menschen um mich herum ich möchte eine stimme haben eine stimme in dieser sprache und ich möchte mich mitteilen können meine gedanken aussprechen in der sprache die du verstehst“
Özlem Özgül Dündar belässt es in ihrem Hörspiel nicht dabei, nur den Opfern und somit auch den Frauen eine Stimme zu verleihen, sondern sie fordert zur Auseinandersetzung auch mit unvereinbaren Positionen auf. Eben dieser Perspektivwechsel ist die Grundvoraussetzung für die Überwindung rassistischer Denk- und Handlungsstrukturen. Wegen seiner großen gesellschaftlichen und politischen Dringlichkeit verbindet sich daher mit der Würdigung von „türken, feuer“ als Hörspiel des Monats nicht nur die dringende Empfehlung, dieses Stück zu hören, sondern auch, es in die Lehrpläne deutscher Schulen aufzunehmen.
Die Sendung wird am 04.07.2020 um 20.05 Uhr im Deutschlandfunk (DLF) wiederholt.
Die Nominierungen
BR, Mercedes Lauenstein: Entscheidungen
DLF, Jochen Langner: Ein paar Dutzend Worte
DLF Kultur, Michel Decar: Die besten Sprüche aller Zeiten
HR, Wilhelm Genazino: Im Dickicht der Einzelheite
MDR, Rolf Schneider: Goethefrauen
NDR, wittmann zeitblom: Tell me something good, Stockhausen!
RB, keine Nominierung
RBB, Teresa Doppler: Das weiße Dorf
SR, Alice Zeniter: Wenn die Welle kommt
SWR, Klaus Buhlert: Pirate Prentice‘ Paranoia
WDR, Özlem Özgül Dündar: türken, feuer
ORF, Luther, Christian Friedrich Henrici (Picander) und Paul Gerhardt: Matthäus-Passion
SRF, Wolfram Höll: Nebraska
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