Günter-Eich-Preis für Jürgen Becker
„Ein neuer Satzbau, ein neuer Tanz der Präpositionen, Adjektive und Adverbien, eine neue Gangart des Sprechens“ zeichne das Werk Jürgen Beckers aus. Mit diesen Worten würdigte Sebastian Kleinschmidt, Chefredakteur der Zeitschrift „Sinn und Form“, in seiner Laudatio den vierten Preisträger des Günter-Eich-Preises, Jürgen Becker. Am 31. Januar wurde im Mediencampus Villa Ida die von der Medienstiftung der Stadtsparkasse Leipzig mit 10.000 Euro dotierte Auszeichnung verliehen. Der Preis geht an „ein Lebenswerk von Autorinnen und Autoren, die mit ihren Radioarbeiten das Repertoire der Gattung Hörspiel vielgesichtig und stetig erweitert haben“. Das trifft zweifellos auf Jürgen Becker zu, der, bevor er die Möglichkeiten des Hörspiels erweiterte, schon die der Literatur erweitert hat.
Becker, Jahrgang 1932, kam als freier Mitarbeiter zum Rundfunk, war zwischenzeitlich Lektor bei Rowohlt und Leiter des Rowohlt-Theaterverlags und von 1973 bis 1994 Chef der Hörspielabteilung des Deutschlandfunks und während der ganzen Zeit immer auch Schriftsteller.
Schon vor seinem eigenen Debüt, der sprachexperimentellen Studie „Felder“ (1964), hatte er Texte für das Mappenwerk „Phasen“ des Fluxuskünstlers Wolf Vostell verfasst. Auf „Felder“ folgten dann die Bücher „Ränder“ und „Umgebungen“, alles literarische Raumerkundungen, die die Textgestaltung mit einbezogen – typografische Ausformungen eines topografischen Textverständnisses. Das wiederum kulminierte in dem Hörspiel „Die Wirklichkeit der Landkartenzeichen“ von 1971. Beckers Wege durch die Landschaften waren zugleich Wege durch die Geschichte – eine Abbildung der Zeit auf den Raum. Heute würde man solche Überblendungen „augmented reality“ (erweiterte Realität) nennen. Alexander Kluge, Eran Schaerf oder William Gibson, der Erfinder des Begriffs „Cyberspace“, arbeiten heute auf einem ähnlichen Gebiet, das Jürgen Becker schon vor über 40 Jahren urbar gemacht hat.
Dass das Hörspiel keine literarische Gattung mehr sei, sondern dass es „alles sein kann, was man hörbar machen kann“, wusste Jürgen Becker schon Ende der Sechziger Jahre. Sein wohl berühmtestes Hörspiel, das Stück „Häuser“ aus dem Jahr 1969 (Regie: Raoul Wolfgang Schnell), hatte, so Laudator Sebastian Kleinschmidt, einen „radikal antimimetischen, nicht-narrativen Charakter. Keine Figuren, keine Handlung, keine Dramaturgie, keine Szenen, stattdessen ein surrealistisches Panorama der Koexistenz, Bewusstseinsstenogramme, Assoziationsprotokolle, Simultaneität, Serien, Summen, Reihen, optische Additionen, akustische Dissoziationen, furios neutral und rhythmisch durchgearbeitet, wie ein modernes Orchesterstück, kein Dur, kein Moll, gewissermaßen atonal. So sah sie aus, die Beckersche Programmmusik fürs Hörspiel im Radio.“
„Erzählungen finden in den Geräuschen statt“, so betitelte Becker eines seiner frühen Hörspiele, und Christoph Buggert, Vorsitzender der Jury des Günter-Eich-Preises, konnte ihm da nur beipflichten: „Die Flexibiliät der Klänge mit der Präzision der Sprache zur Deckung zu bringen, verdankt das Hörspiel dem Medium Radio.“ 2009, 40 Jahre nach „Häuser“, kehrte Becker zu seinen Anfängen zurück und der Deutschlandfunk, sein ehemaliger Sender, produzierte das Hörspiel „Unterwegs im Haus“ – diesmal nur mit einer Stimme, der von Otto Sander, inszeniert von Leonhard Koppelmann.
Das Hörspiel – nichts für Großmanager
Das Hörspiel, das der „FAZ“-Herausgeber Karl Korn 1953 anlässlich der Buchausgabe von Günter Eichs Hörspiel „Träume“ als „das wichtigste literarische Versuchfeld unserer Tage“ bezeichnet hatte, ist für Jürgen Becker heute noch immer das wichtigste künstlerische Versuchsfeld, auch wenn es zu seinem leichten Bedauern keine Großschriftsteller mehr hervorbringt, wie Alfred Andersch, Ernst Schnabel, Helmut Heißenbüttel und Hans Magnus Enzensberger, die in Personalunion Schriftsteller und Redakteure waren. Auch Jürgen Becker gehört zweifellos in diese Reihe.
All diese Autoren/Redakteure stammen aus einer Zeit, in der das Radio „nicht als Mäzen, wie es die Legende erzählt, sondern als Auftraggeber“ einen existentiellen Zusammenhang zwischen der Literatur und einer öffentlich-rechtlichen Institution herstellte, der – international einzigartig – schöpferische Energien freisetzte. Deshalb sollte der stillschweigende Programmauftrag, Hörspiele zu produzieren, in einer von der Kalkulationszwängen der Privatwirtschaft freien Institution bewahrt und gegen die Einsparer und Nivellierer verteidigt werden, so Becker.
Christoph Buggerts Appell geht in die gleiche Richtung: „Bitte überlasst das Hörspiel denen, die am meisten davon verstehen: den Autoren, den Dramaturgen, den Regisseuren, den Komponisten, den Schauspielern. Ein Großmanger, der zusätzlich die Arbeit der Redakteure übernimmt, hätte eine schlechte Personalpolitik gemacht.“ Denn nur das Hörspiel kann, so zitiert Jürgen Becker den Namenspatron des Günter-Eich-Preises, „das Schweigen in Worte so übersetzen, dass es den Charakter des Schweigens nicht verliert.“
Jochen Meißner – Funkkorrespondenz 09/2012
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