Grundrauschen im Internet
Jan Jelinek: Social Engineering
SWR 2, 25.02.2023, 23.03-23.36 Uhr
Jan Jelinek ist ein äußerst produktiver und origineller Hörspielmacher, Klangkünstler und Musikproduzent: Mit dem Hörstück „Überwachung in drei Episoden“, das sich mit akustischen Architekturen beschäftigt, hat er 2022 den Karl-Sczuka-Preis für Hörspiel als Radiokunst gewonnen. In „Zwischen“ hat er in 22 Lautgedichten auf hochkomische Weise Hesitationsvokalisationen (also „Ähs“ und „Hmms“) von Joseph Beuys über Lady Gaga bis Slavoj Žižek zusammengeschnitten; in „Das Scheitern der bemannten Raumfahrt“ beschäftigte er sich mit dem wissenschaftlichen 200-Millionen-Dollar-Projekt „Biosphere 2“, das in den 90er Jahren scheiterte; und in „Vom Rohen und Gekochten“ komponierte er aus Aufnahmen von Veränderungen – etwa wenn etwas Festes zu Bruch geht – ein Hörstück. In seinem neuen Stück geht es um immaterielle Transformationen, nämlich um die Steuerung menschlichen Verhaltens mittels Spam- und Phishing-Mails.
„Social Engineering“ ist nicht nur der Titel von Jelineks lediglich 33 Minuten dauerndem Hörstück für künstliche Stimmen und synthetische Kommunikationsversuche, sondern auch ein Terminus technicus aus behavioristischen Politik- und Sozialwissenschaften, der für Manipulationen aller Art steht. Und in der Cybersicherheitsbranche wird der Begriff für Trickbetrüger verwendet, die mittels fingierter E-Mails versuchen, Erpressungen zu begehen oder sich sensible Daten anzueignen.
Das Spektrum reicht vom Verkauf von Schlankheitspillen bis zum Ankauf von Organen, von der Drohung, den per Webcam aufgezeichneten Pornokonsum an sämtliche Einträge im Adressbuch zu schicken, bis hin zu lukrativen Angeboten, die 100 Prozent Zinsen pro Woche (!) für Einlagen von 500 bis 235.000 Euro verheißen: „Wir sind ein Finanzinstitut, das Geld von Ihnen kauft und es an öffentliche und private Partner, natürliche oder juristische Personen verkauft, die aufrichtig, ehrlich und in Not sind.“
Die Versuche der Täter, mit dem potenziellen Opfer in Kontakt zu treten, indem sie Gemeinsamkeiten suchen, mehr oder weniger subtil Druck aufbauen oder direkt mit technischen oder persönlichen Übeln drohen, gibt es auch in der analogen Welt. In Jelineks Hörspiel hört man O-Töne französischsprachiger Hütchenspieler in Genf.
Die Phishing-Mails lässt Jan Jelinek von künstlichen Stimmen auf Englisch und Deutsch vorlesen oder vorsingen und macht so die oft wenig hintergründigen Subtexte hörbar: „Permit me to inform you of my desire.“ Phrasen wie „Let us think of it as a donation“ für eine erpresserische Forderung und „Find out more about this awesome product“ werden als refrainartige Loops eingesetzt. Damit verlieren sie zeitweise ihren semantischen Gehalt und werden zu rhythmisierten Elementen innerhalb des Hörstücks. Die Musikalisierung der Texte holt jenes Grundrauschen des Internets an die Oberfläche, das heute weitgehend von den Algorithmen der Netzbetreiber ausgefiltert oder in Spamordner verschoben wird.
Jan Jelinek hat für sein Hörspiel nicht nur die unfreiwillig komischen maschinellen Übersetzungen oder mehr oder weniger aggressiven Zahlungsaufforderungen verwendet. Sein Material reicht von der Erbschaftsankündigung über gefakte Virus- und Spyware-Infektionen bis hin zu vagen Anschuldigungen, die in konkrete Erpressungen münden. Manchmal werden die Adressaten auch ganz höflich aufgefordert, den automatisierten Versand von antisemitischen, extrem rechten oder linken, xenophoben oder einfach nur verabscheuungswürdigen Inhaltenüber die eigenen E-Mail-Adressen zu vermeiden – und das ist nicht einmal teuer: „Wenn Sie freundlicherweise 499 EURO in Bitcoin an nachfolgende Adresse zahlen, werden wir davon absehen, Ihre Firma und Sie persönlich zu ruinieren. (…) Denken Sie mal darüber nach, was es Sie kosten würde, den PR-Schaden zu beheben, falls das überhaupt möglich sein sollte. Und wie lange dies dauern würde – vor allem wenn die nächsten 12 Monate täglich 1.000 E-Mails versendet werden.“
Diese und ähnliche Techniken werden abseits finanzieller Interessen zur Manipulation nicht nur von Individuen, sondern auch von Populationen eingesetzt. Jelineks akustische Fassung langsam verschwindender Bedrohungsszenarien klingt wie ein klangkünstlerischer loungiger Soundtrack aus dem sich gegenwärtig fundamental transformierenden Computerzeitalter.
Die Large-Language-Module gegenwärtiger künstlicher Intelligenzen werden weniger grammatikalische und orthografische Fehler machen, und ihre ebenfalls künstlichen Counter-Intelligences werden auch immer besser. Sollen sie sich doch gegenseitig E-Mails schicken, die eine dritte KI dann zu einem Hörspiel macht. Dann könnte man das Adjektiv „social“ vor dem „engineering“ weglassen. Bis dahin kann man sich von Jan Jelineks Hörspiel unterhalten lassen.
Jochen Meißner, epd medien 10/2023, 10.03.2023
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