Für eine Ornithologie der Stimme (und eine Ichthyologie der Medien)
Das Symposium „Choreography of Sound“ bei den 10. ARD-Hörspieltagen 2013
Alljährlich strömt Anfang November die Hörspielszene nach Karlsruhe. In die Stadt, in der Heinrich Hertz die elektromagnetischen Radiowellen nachgewiesen und die Grundlagen für den Hörfunk gelegt hat. Zum 125. Jahrestag der Vorstellung des Forschungsberichts „Über elektrische Wellen“ hat die Post (auch ein Medienunternehmen) Hertz dieser Tage eine Sonderbriefmarke gewidmet. Doch es war nicht das einzige Jubiläum, das zu feiern war: Der Rundfunk in Deutschland wurde heuer 90 Jahre alt, das berühmteste Hörspiel der Radiogeschichte, „The War of the Worlds“ von Orson Welles, wurde vor 75 Jahren urgesendet und die ARD-Hörspieltage feierten ihren 10. Geburtstag.
Vom 5. bis 10. November fanden die Jubiläumshörspieltage in Karlsruhe statt und dazu machten sich die Veranstalter selbst gleich mehrere Geschenke. Man lud zum Beispiel die amerikanische Theaterlegende Robert Wilson ein, mit einer hochkarätigen Besetzung – darunter Isabelle Huppert, Angela Winkler, Jürgen Holtz, Anna Graenzer und Christopher Knowles – sein erstes Hörspiel zu inszenieren: „Monsters of Grace II“ war eine mehrsprachige Montage aus Texten von Lukrez bis Hölderlin und von Gertrude Stein bis Ezra Pound, die als public recording session live aufgeführt wurde.
Die Stimme – und nicht, wie man dem Titel nach hätte vermuten können, die Bewegung – stand denn auch im Zentrum des dreitägigen, international besetzten Symposiums „Choreography of Sound: Between Abstraction and Narration“, einem zweiten Geschenk, das sich die Veranstalter der ARD-Hörspieltage selbst machten. Federführend zuständig sind dafür der Südwestrundfunk (SWR) und der Hessische Rundfunk (HR), Kooperationspartner sind das Karlsruher Zentrum für Kunst und Medientechnologie (ZKM), die Hochschule für Gestaltung (HfG) in Karlsruhe und die Kulturstiftung des Bundes.
Das Chamäleon unter den Medien
Wie oft, wenn es um Beschreibung oder Analyse des Radios oder seiner Kunstform Hörspiel geht, greift man gern in die Metaphernkiste. „Kino im Kopf“ ist dabei nur die verbreitetste Fehlinterpretation. Der Terminus „Choreografie“ hat demgegenüber den Vorteil, nicht ein Medium über ein anderes zu definieren, sondern die akustischen Künste mit Hilfe einer dem Tanz entliehenen, kompositorischen Verfahrenstechnik neu zu betrachten. Dass die „Choreografie“ neben der „Orchestrierung“ auch noch eine Bedeutung für die Dienstekomposition in der Informatik hat, sei hier nur am Rande erwähnt (Dank für den Hinweis an Marie-Luise Goerke).
Peter Weibel, Hausherr des ZKM, definierte auf dem Symposium in seinem Eröffnungsvortrag „Radio Art as Media Art“, worum es eigentlich geht: „Radio ist ein multiples Medium, das für alle Formen des Tons, für alle Frequenzen des Schalls, von der Literatur bis zur Musik, ein Produktions- und Distributionsmedium ist. […] Alles, was auf elektromagnetischen Wellen surft, ist Radiomaterial.“ Im Gegensatz zu den althergebrachten Künsten, die Originalwerke schufen, erzeugt das Radio kein Produkt, so Weibel. Es schafft ein gleichzeitiges, allgegenwärtiges Kommunikationsereignis, das verschwindet, wenn es nicht gespeichert wird. Und natürlich vergisst man, wenn man Radio hört, dass man ein Medium hört. Ein Fisch, so Weibel, hält das Wasser für seine natürliche Umwelt, es ist für ihn unsichtbar. Erst wenn man ihn in die Luft wirft, merkt er, dass mit seinem Medium etwas nicht stimmt. Medien sind umso effektiver, je mehr sie hinter ihren Inhalten verschwinden – was unter anderem den Erfolg von Orson Welles’ legendärem Hörspiel erklärt.
Das erste Medium
«Das Radio ist also das erste massenmediale reine Distributionsmedium – von Daten, nicht von Dingen. Radiokunstwerke sind also akustische Datenkunstwerke, raum- und zeitbasierte Kunstwerke. Sie verbreiten sich im Raum des Nebeneinander und in der Zeit des Nacheinander. Radio ist also ein Datenmedium, das erste Medium im heutigen Sinne.»Medien-Ichthyologe Peter Weibel in seinem Eröffnungsvortrag
Die Kuratorinnen des Symposiums, Gaby Hartel und Marie-Luise Goerke, bezeichneten das Radio denn auch als „das Chamäleon unter den Medien – flink und ständig wandelbar“. Es sei ein „polyartistisches Medium“ (Richard Kostelanetz), das offen für verschiedenste Kunstsparten ist, wenn sie sich dem Akustischen zuwenden. Dass diese Zuwendung auch eine stumme sein kann, demonstrierte der Kunstwissenschaftler Michael Glasmeier, der den Lärm beschrieb, der auf Renaissance-Gemälden zu sehen ist, aber nur in der Imagination hörbar wird.
Ein anderes „Radio vor dem Radio“ beschrieb die Kulturwissenschaftlerin Brigitte Felderer, die sich mit Sprechmaschinen, die es seit dem späten 18. Jahrhundert gibt, beschäftigte. Deren Fortentwicklungen wurden bei öffentlichen Vorführungen unter anderem als „invisible Lady“ annonciert – Medien machen sich eben gerne unsichtbar. Die Möglichkeiten des menschlichen Artikulationsapparats demonstrierten in ihren artistischen Beiträgen umso sichtbarer der Begründer der Spoken-Word-Poetry, John Giorno, der Schriftsteller, Lautpoesieforscher und performer Michael Lentz und der Autor, DJ und Musiker Thomas Meinecke. Ganz wortwörtlich oder wortlautlich wurde das Feld zwischen Abstraktion (Michael Lentz) und Erzählung (John Giorno) abgeschritten. Zwischen Musik und Diskurs wie immer: Thomas Meinecke, der in Karlsruhe zusammen mit Moove D an den Plattenspielern einen Ausschnitt aus seinem fast 15 Jahre alten Hörspiel „Freuds Baby“ zur Aufführung brachte.
Wie Stimme funktioniert und welche Materialität ihr innewohnt, zeigte der britische Literaturwissenschaftler und Radiopraktiker Steven Connor in gleich zwei Vorträgen. In seinen Ausführungen zum Thema „The Art of Foam and Froth“ ging es um die Substanz oder vielmehr den Aggregatzustand der Stimme. Im Deutschen gibt es für „Foam“ und „Froth“ nur ein Wort: Schaum. Zu akademischen Ehren sind „Schäume“ und „Blasen“ durch den Philosophen und HfG-Direktor Peter Sloterdijk gekommen, der ihnen zwei gewichtige Werke gewidmet hat. In seinem zweiten, als „Art Slam“ etikettierten Vortrag mit dem Titel „The Matter of Air“ spürte Connor der Substanz der Luft nach, der der Mund erst eine Form gibt.
Dass sinnhafte Lautäußerungen nicht an menschliche Münder gebunden sein müssen und auch eine territoriale Funktion haben können, berichtete die Ästhetik-Professorin Mirjam Schaub. In Edinburgh versuchten Möwen auf einem typischen Amselplatz den Gesang des Nahrungskonkurrenten zu imitieren. Woraus die Wissenschaftlerin die anthropologische Schlussfolgerung ableitete: „Wer in Gremien arbeitet, weiß, wie wichtig es ist, mit einer ganz bestimmten Stimme bestimmte Dinge zu sagen.“ Wenn es also schon eine Choreografie des Klangs gibt, warum dann nicht auch eine Ornithologie der Stimme? Auf weitere hochinteressante Beiträge von AK Dolven bis Heiner Goebbels, von Thora Blake bis Magne Furuholmen, von Peter Cusack bis Christina Kubisch, von Michaela Melián bis Julian Treasure kann hier nur summarisch verwiesen werden.
Deutscher Hörspielpreis der ARD für Paul Plamper
Eine „absolute Radiokunst“, die sich von narrativen Zwängen befreit, wollte schon Kurt Weill in den zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts, und ein anderer Theoretiker, Aloys Wilsmann, forderte „die dramatischen Spielerlebnisse völlig in Klang und Schall aufzulösen“. Mit Ausnahme eines dokumentarischen Stücks war der Hauptwettbewerb auch dieser ARD-Hörspieltage wieder einmal von literarisch-narrativen Stücken dominiert. Insofern war die Jury mit vier Mitgliedern aus dem Literaturbetrieb (Jochen Hieber, Sigrid Löffler, Jens Bisky, Katrin Lange) und einer Medienwissenschaftlerin (Sandra Naumann) nicht ganz falsch besetzt.
Den mit 5000 Euro dotierten Deutschen Hörspielpreis der ARD verlieh die Jury einem radiophonen Originalhörspiel: Er ging an Paul Plampers Stück „Der Kauf“ (vgl. FK 23/13), das in einer Rückblende-Dramaturgie die Geschichte einer Gentrifizierung erzählt. Den mit 2500 Euro dotierten ARD Online Award, der per Internet-Abstimmung vergeben wird, erhielt das Hörspiel „Heidi Heimat“ (vgl. FK 15/13), das mit 51 Prozent der abgegebenen Stimmen gewann. In „Heidi Heimat“ von Robert Schoen geht es um eine von einem Kinderfilm der 1950er Jahre inspirierte Erkundung Deutschlands durch nicht ganz freiwillige Zuwanderer.
Jochen Meißner – Funkkorrespondenz 46/2013
Monsters of Grace II, Bild: SWR/Lovis Dengler Ostenrik.
Alle anderen Bilder: SWR/Peter A. Schmidt.
› Radio? Das geht nicht mehr weg! Ein Beitrag für das SWR-Magazin Mehrspur – Radio reflektiert Nr. 33 vom 17.11.2013 mit Peter Weibel und Christine Kubisch.
Und Detlef Berentzen (alias Dr. Feelgood) hat ihn für das taz-blog spurensuche gehört.
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