Erkenntnispakete aus der Kohlenstampfmaschine

Heiner Goebbels‘ Hörstück „Orakelmaschine“ verbindet experimentelle Musik, literarische Zitate und ethnographische O-Töne zu einem prozesshaften Klangkunstwerk, das auf einer performativen Installation in der Völklinger Hütte basiert.

Heiner Goebbels: Orakelmaschine

SWR Kultur, Sa, 01.02.2025, 23.03 bis 0.00 Uhr
DLF Kultur, Fr, 07.02.2024, 0.005 bis 1.00 Uhr

„Angefangen nicht redend mit Musik redend Musik / zitierend Musik vorschiebend / Musik unterschiebend / unterschiebend unterlegend unterstellend / vorschiebend unterschiebend unterlegend / unterstellend“ – selten wird das Geheimnis eines Hörspiels so offen ausgeplaudert wie in dem Text von Helmut Heißenbüttel, den Heiner Goebbels in seinem 52-minütigen Hörstück „Orakelmaschine“ zitiert. Die Koproduktion von Südwestrundfunk (SWR) und Deutschlandfunk Kultur ist nach der performativen Installation „862 – Eine Orakelmaschine“ entstanden, die in der Kohlenstampfmaschine der Kokerei der Völklinger Hütte im Saarland spielte. Seit 1994 ist die Hütte als erstes Industriedenkmal von der Unesco zum Weltkulturerbe erklärt worden. Die Zahl verweist auf die Seriennummer der Maschine und in der Radiofassung wurde sie weggelassen – ebenso wie der Chor, der im September 2023 die Installation in Völklingen begleitete.

Was wir an gesprochener Sprache hören, während die Musik des Ensembles „The Mayfield“ um Heiner Goebbels perkussiv auf die seit Jahrzehnten stillstehende Maschine reagiert, ist, neben der Stimme von Helmut Heißenbüttel, die von Marguerite Duras (à propos de l’an 2000), die von David Bennent aus Heiner Goebbels Hörstück „Maelstromsüdpol“ und auch die von Hannah Arendt, die Brecht zitiert. Dazu kommen noch Originaltöne von Griechenland bis Litauen und von Kroatien bis zur Krim aus ethnographischen Phonogrammarchiven und Tierstimmen. Als zentraler Text dient eine längere Passage aus dem zweiten Kapitel des Romans „Thomas, der Dunkle“ von Maurice Blanchot aus dem Jahr 1941.

Dazwischen erklingt vorschiebend / unterschiebend / unterlegend / unterstellend die analog-elektronische musique concrète von „The Mayfield“ (Willi Bopp – Sound, Camille Émaille – Perkussion, Gianni Gebbia – Saxofon, Heiner Goebbels – präpariertes Klavier, Cécile Lartigau – Ondes Martenot, Nicolas Perrin – Gitarre und Electronics). Aufgenommen wurde das Ganze im Pariser Studio „La Muse en Circuit“, das von dem Komponisten und Klangkünstler Luc Ferrari begründet wurde.

Material und ein Widerstand

Für seine Stücke brauche er immer Material und einen Widerstand, sagte Heiner Goebbels in einem Interview mit dem Saarländichen Rundfunk (SR) (siehe auch den Beitrag von Uwe Loebens) über seine performative Installation – und die Kohlenstampfmaschine, die ihr Material zu Paketen presste, um es dann dem Verbrennungsprozess zu übergeben. Es handelt sich also um eine notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung der Veredlung von Roheisen zu Stahl.

Das akustische Material, das Heiner Goebbels seinen Hörern zur Verfügung stellt, erfüllt eine ähnliche Funktion. Das Endprodukt entsteht erst im Prozess der Verarbeitung. Goebbels‘ „Orakelmaschine“ ist ein weiterer Beleg seiner Abneigung gegen das Didaktische in der Kunst. Seine Arbeiten sind fast immer prozesshafte, suchende.

Dennoch ist die Klangsprache von Heiner Goebbels in der Auswahl der Texte und in der Wiederkehr bestimmter Motive erkennbar. Maurice Blanchots „Thomas, der Dunkle“ erinnert in seiner Struktur an Heiner Müllers Text „Herakles II oder die Hydra“, der in der Verschmelzung des Waldes mit dem, der ihn durchstreift, gipfelt – eine feindliche Übernahme. Müllers Konstruktion ähnelt der von Blanchot, in dessen Text es heißt: „Tatsächlich lag in seiner Art zu stehen eine Unbestimmtheit, die, was er tat, weiterhin anzweifelte.“ Poetischer kann man das im Wortsinne „Widerständige“ kaum beschreiben.

Der von Blanchot beschriebenen wechselseitigen Durchdringung von Mensch und Landschaft steht eine humorvolle Auseinandersetzung mit den Begriffen „Gegend“ und „Landschaft“ gegenüber. „Gegend ist etwas in dem was vorgeht und in dem sich was versammelt mit dem was vorgeht“, sagt Helmut Heißenbüttel und fährt fort: „Gegend ist etwas in dem was vorhanden ist und wird in gewisser Weise von dem gebildet was vorhanden ist und Gegend und Vorhandensein sind sozusagen etwas das nur miteinander vorkommt und das man schwer auseinanderhalten kann.“ Landschaft hingegen ist etwas, „bei dem man etwas empfindet etwas das man genießt und bewundert und bewundernd sich vorstellt davorstellt.“ Das hat Konsequenzen: „Niemand hat Lust in einer Gegend Ferien zu machen und wenn Gegend was ist in dem Vorhandensein sozusagen das einzige ist was vorkommt so sind Landschaften natürlich der einzige Ausweg.“ (Helmut Heißenbüttel: Saisonverkehr)

Alle bleiben immer alle

Ergänzt werden diese Überlegungen um die Begriffe „Einige“, „Viele“ und „Alle“, die ebenfalls in einem Wechselverhältnis stehen, das nicht so einfach zu beschreiben ist, wenn man nicht über eine Sprache wie Helmut Heißenbüttel verfügt: „Jedenfalls besteht ein unterschied zwischen einigen und vielen gegenüber allen darin, dass es bei einigen und vielen noch andere geben kann, und bei allen nicht. Und einige und viele müssen immer mit noch anderen rechnen, alle jedoch nicht und selbst wenn man sich auf einige und viele beschränkt, müssen sie miteinander rechnen, während alle immer alle bleiben.“ Und bei dem, was die vernichten wollen, wenn sie auf die, die sowieso da sind, treffen, ist unklar: Gegenden oder Landschaften? Da sage noch einer, experimentelle Literatur sei nicht politisch.

Das letzte Wort hat dann Hannah Arendt, die einen prophetischen Reim aus der Oper „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“ von Brecht/Weill skandiert: „Wir brauchen keinen Hurrican, wir brauchen keinen Taifun / Was der an Schrecken tuen kann, das können wir selber tun.“ Näher kann man der Textgattung „Orakelspruch“ in Heiner Goebbels‘ Hörstück nicht kommen. So auslegungsfähig die Sprüche der Pythia auch gewesen sind, und so unklar ist, welches Reich man zerstören wird, wenn man in den Krieg zieht – das andere oder das eigene – so reichhaltig sind auch die Bezüge, die man zwischen den Texten, zwischen Text und Musik sowie zwischen Text, Musik und den ethnographischen O-Tönen herstellen lassen.

Heiner Goebbels wollte sich das in Völklingen vor Ort von seinen Hörern erzählen lassen. In der Ortlosigkeit des Radio geht das leider nicht, da ist jeder selbst Herr seiner inneren Kohlenstampfmaschine, die das Material zu Paketen presst und an anderer und vielleicht gänzlich unerwarteter Stelle etwas Neues produziert – möglicherweise Erkenntnis.

Jochen Meißner – KNA Mediendienst, 30.01.2025

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