Eine emanzipierte Reaktionärin

Angela Steidele: Anne Lister – Eine erotische Biographie

HR 2 Kultur 8.5, 15.5., 22.5.2022, 22.00 bis 23.00 Uhr

„Nie gerät die Biographin zufällig an ihre Heldin“, sagt Angela Steidele, Autorin einer erotischen Biografie der Britin Anne Lister, einer Zeitgenossin Jane Austens. Listers codierte Tagebücher erzählen von den Ausschweifungen einer emanzipierten Reaktionärin im prä-viktorianischen England.

26 Bände umfassten die Tagebücher der Anne Lister (1791-1840), die in einer Geheimschrift aus zahllosen Abkürzungen, griechischen Buchstaben, numerischen und erfunden Zeichen verfasst waren. Als John Lister die kalbsleder-gebundenen Bande fand und sie mit Hilfe des Antiquars Arthur Burrell entschlüsselt hatte, zeigte er sich schockiert über die dort verzeichneten homosexuellen Handlungen. Doch statt die Tagebücher zu verbrennen, versteckte er sie, so dass sie wiedergefunden werden konnten und mittlerweile sogar in das Weltdokumentenerbe der Unesco aufgenommen wurden.

Die Literaturwissenschaftlerin und Autorin feministischer Sachbücher Angela Steidele hat Anne Lister 2017 „eine erotische Biographie“ gewidmet, die von der Hörspielautorin und -regisseurin Luise Voigt für das Radio bearbeitet und inszeniert wurde. Wir haben es also mit einer dreifachen Autorschaft zu tun, die die Verstecke, die Anne Lister in der Schrift und in der Sprache suchen musste, aufsucht und hörbar macht. Eigentlich haben wir es sogar noch mit einem vierten Autor zu tun, dem Komponisten Hans Peter Kuhn, dessen mitunter sägende Klänge so in die Texte einer der Figuren hineinschneiden, dass sie eine eigene Geschichte erzählen. Das ist formal für das Genre Literaturbearbeitung ungewöhnlich.

Anne Lister, die als Frau im prä-viktorianischen Zeitalter weniger Chancen auf Bildung hatte als ihre männlichen Zeitgenossen lernte unter anderem Latein und Griechisch auch um die „mit einer Hand zu lesenden“ Werke Lukians oder Martials rezipieren zu können. Derlei wurde in zeitgenössischen Übersetzungen zensiert. In ihren Tagebüchern führte sie penibel über ihre sexuellen Aktivitäten Buch und markierte ihre Orgasmen mit einem x. Listen und Protokolle sind das Signum einer rationalistischen Aufklärung und stehen in einem merkwürdigen Missverhältnis zu Anne Listers streng anglikanischen Glaubens und ihrer reaktionären Einstellung gegenüber ihren Untergebenen. Kurz vor ihrem Tod war sich mit Ann Walker quasi verheiratet, einer waschechten Brunnenvergifterin, die ein Teerfass in einer Quelle auf ihrem Grundstück versenken ließ, um den Bewohnern eines Armenviertels zu demonstrieren, wem das Wasser gehört.

Als sexbesessener Mann, der seine Pächter drangsaliert, wenn sie nicht für die Tories stimmen, der gegen das Frauenwahlrecht ist, der zutiefst von der Ungleichheit der Menschen überzeugt ist und von der Rechtmäßigkeit der ihm qua Geburt zugefallenen Privilegien, wäre Anne Lister für Angela Steidele von keinerlei historischem Interesse. Als Frau ist die schwierige Heldin für ihre Biografin allerdings interessant, weil sie das ideologische Frauenbild ihrer Epoche zugleich sprengt und bestätigt. Denn als Casanova-Figur besteht Anne Lister meist darauf einem männlichen Erobererbild zu entsprechen. Nach zwanzig Jahren intensiver sexueller Aktivitäten „hielt sie sogar noch ihr Jungfernhäutchen für intakt“.

Die drei Hörspielfolgen im linearen Programm auf HR 2 Kultur (8., 15. und 22. Mai, 22.00 Uhr) und das auf sechs Folgen konfektionierte Podcastformat in den Audiotheken zeichnen das Porträt eines zutiefst ambivalenten Charakters. Das ebenfalls ambivalente Verhältnis der Autorin Angela Steidele zum Objekt ihrer Forschung wird im Hörspiel durch die ähnlichen Stimmen von Katja Bürkle, die Angela Steidele spricht und Bettina Hoppe in der Rolle der Anne Lister hörbar. Die beiden sind auf Anschluss geschnitten, fallen sich fast ins Wort und kommentieren sich quasi gegenseitig.

Eines der Hauptprobleme bei derartigen Stücken ist: wie klingt der Sex? Schon in der Literatur und im Film ist das keine einfache Aufgabe und gerade im Hörspiel hat man das Thema meist im Kontext von gewaltförmigen Beziehungen und der Kritik an sexistischen Machtverhältnissen behandelt. Doch ab und zu gibt es Beispiele für sexpositive Stücke, wie in jüngster Zeit das aus einer biografischen Perspektive erzählte Hörspiel „Leck mich“ von Elisabeth Weilenmann (ORF), oder die Geschichte einer Sex-Podcast-Autorin in „All your desires“ von Kristin Höller und Taiina Grünzig (WDR), die lustvoll alle Peinlichkeiten rund um das Thema auserzählt.

Regisseurin Luise Voigt ist da nicht feige und findet für ihr Stück eine Balance in der Inszenierung stöhnender Körperlichkeit in einem musikalischen Kontext ohne allzu verschämt oder allzu drastisch rüberzukommen – und manchmal kommentieren hohe Pfeiftöne aus der Komposition von Hans Peter Kuhn das Geschehen geradezu ironisch. Als Gegengewicht zu den vielen Jane-Austen-Inszenierungen im Programm komplettiert der Hessische Rundfunk mit „Anne Lister“ das Bild der Epoche, die besonders in ihren frühkapitalistischen politischen Implikationen unangenehm aktuell wirkt.

Jochen Meißner, KNA Mediendienst 19.05.2022

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