Zweigleisiges Hören – Die österreichischen Hörspieltage 2022

Heute beginnen in Krems an der Donau die österreichischen Hörspieltage (u. a. mit „Die rote Tür“).
So war es im letzten Jahr.

Zu den österreichischen Hörspieltagen trifft sich jedes Jahr um Christi Himmelfahrt auf Einladung des österreichischen Verbandes der Dramatiker und Dramatikerinnen die deutschsprachige Hörspielmacherszene, um über neue Stücke, neue Ästhetiken und die Zukunft des Hörspiels zu diskutieren. Diesmal mit einem pessimistoischen Ausblick.

Auf die Frage, warum der Kammersänger im ersten Akt leidenschaftlich mit einem Funken Hoffnung im Gesicht spiele, obwohl sie den grässlichen Ausgang im fünften Akt doch kenne, wird geantwortet: „Aber das weiß ich im ersten Akt noch nicht.“ Eine völlig logische und plausible Antwort, doch der Interviewer insistiert: „Vom letzten Mal her, Sie spielen das Stück zum 84. Mal.“ Die Szene stammt aus dem Film „Die Macht der Gefühle“ von Alexander Kluge aus dem Jahr 1983 und aus dieser Ausgangssituation entwickelt sich eine loriothafte Miniatur, die zu den komischsten im Werk Kluges gehört.

Zu hören ist die Szene im Hörspiel „Kommt gestern morgen? Eine Montage mit Texten von Alexander Kluge“, das Christian Lerch zusammen mit dem Komponisten Stefan Weber für den Österreichischen Rundfunk gemacht hat. Doch weil man beim ORF weiß, was sich gehört, sind die Rollen gegendert. Aus dem Interviewer ist eine Interviewerin geworden, aus dem Kammersänger eine -in. Das war es dann aber auch schon mit der Innovation, denn die Montagetechnik ist von Kluge übernommen, anlässlich dessen 90. Geburtstags der ORF das Stück urgesendet hat. Und Kluges Stimme hört man halt doch beständig durch, auch wenn sie in dem Stück nicht vorkommt. Zu charakteristisch ist sein Duktus, dass man ihn quasi als zweite Stimme im Kopf durch die Coverversion dieses Hörspiels durchhört.

Auffällig war bei den traditionsreichen österreichischen Hörspieltagen, die dieses Jahr vom 27. bis 30. Mai 2022 im Literaturhaus des niederösterreichischen Krems stattfanden, dass nicht wenige aktuelle Stücke mit der Transformation der Arbeit und deren Auswirkungen auf das Individuum zu tun hatten: Ob in Magdalena Schrefels Stück „Wir Esel“ eine Autorin einen Schreibauftrag mittels eines Chors der Esel abarbeitet oder im kürzlich zum Hörspiel des Monats gewählten Stück „Satellitenbilder deiner Kindheit“ von Leon Engler (Kritik hier) der Erzähler die Spuren seines Vater in immer prekärere Lebensverhältnisse verfolgt.

Gesine Danckwart, die schon 2002/03 mit den Hörspielen „Täglich Brot“ und „Heißes Wasser für alle“ die Konsequenzen dessen schilderte, was man damals „New Economy“ nannte, ist zusammen mit Fabian Kühlein in „Echt? theblondproject“ (RBB, 2020) zu ihrem Thema zurückgekehrt und kommentiert sarkastisch die (Selbst-)Zurichtungen von Frauen, die versuchen, sich die Karriereleiter hochzuhangeln. Ähnlich komisch geht es in der Hörspielgroteske „Fuß auf Blech“ von Annalisa Cantini, Alexandra Ava Koch, Anna Neata, Frieda Paris und Felicitas Prokopetz zu (DLF Kultur). Dort stürzt mit einem Bürogebäude gleich die ganze Struktur der verwaltungsförmigen Selbstoptimierung ein.

Zwanzig Jahre nach Rene Polleschs „Heidi Hoh“-Trilogie über die moderne Arbeitswelt, die auf der Ausbeutung und Vernutzung ihres Humankapitals basiert, ist das Thema für eine neue Generation von Hörspielmachern wieder virulent geworden. Der Mensch ist zugleich Ressource und Produkt einer Ausbeutungsmaschinerie, und das gilt sowohl für die ganz primäre Ausbeutung von Handarbeit bis zu verwaltungstechnischen oder kreativen Berufen.

Schlich sich in der Alexander-Kluge-Paraphrase die Stimme des Autors immer wieder in das innere Ohr, so konnte man diese Art von imaginierter Mehrstimmigkeit auch im letzten Stück des im Januar verstorbenen Schriftstellers Ludwig Fels hören. In „Was siehst du? Die Nacht!“ (ORF) erzählt ein kleines Mädchen von der Fahrt in einem Viehwaggon mit mit Stacheldraht bewehrten Sehschlitzen, während der Vater es zu beruhigen versucht. Natürlich weiß jeder, worum es geht: um die Deportation, die vor der Tür einer Gaskammer endet. Und auch wenn diese Wörter nie fallen, wird dieser Kontext von der Hörerschaft quasi automatisch hergestellt – man wird zum zweigleisigen Hören geradezu genötigt. Man kann das Stück aber auch mit Hörspiel-Ohren hören und erkennt dann die ästhetischen Referenzen zum ersten Traum aus Günter Eichs fünfteiliger Hörspielfolge „Träume“ von 1951. Abstrahiert man aber von diesen historischen und ästhetischen Referenzen, bleibt lediglich ein Schauerstück imaginierten Horrors. Vor diesem Hintergrund wäre die literarische Qualität des Textes zu diskutieren.

Mit den Psalmen-Übersetzungen Martin Luthers hat sich die Lyrikerin Ruth Johanna Benrath auseinandergesetzt. In ihrem Lyrikzyklus „Psalm / aus der tieffen“ (MDR; vgl. MD 20/22, €), der durch Regisseur Stefan Kanis und die Komposition von Dietrich Petzold zum Hörspiel geworden ist, setzt sich die Autorin unter anderem mit dem letzten Zettel auseinander. Wie schon in ihrem lautpoetischen fiktiven Dialog mit der Schriftstellerin Elfriede Gerstl, „GEH DICHT DICHTIG!“, der als Hörspiel des Jahres 2019 ausgezeichnet wurde, entspinnt sich hier ein literarischer Dialog über die Zeiten und Gattungen hinweg – und er macht die Ausgangstexte zugleich fremd und bringt sie nahe.

An vier Tagen wurden insgesamt 14 Hörspiele intensiv diskutiert und doch schwebte über allen ein Hauch von Pessimismus, denn das Hörspiel im öffentlich-rechtlichen Rundfunk transformiert sich gerade. Podcasts und Online-only-Produkte verdrängen zunehmend die klassischen Formen des Hörspiels. Sendeplätze fallen weg und wenn man die Jahre 2010 und 2020 als Datenpunkte nimmt, dann ergibt sich ARD-weit ein Minus von zwölf Prozent bei den wöchentlichen Sendeplätzen. Über das Jahr gerechnet haben sich durch die Verkürzung von Sendeterminen oder die ersatzlose Streichung von Sendeplätzen die Sendeplatzminuten pro Jahr sogar halbiert.

Für Hörspielautorinnen und -autoren ist das keine schöne Perspektive, zumal die Honorare in der Zeit stagnieren und die Online-Vergütungen von 4,5 Prozent ein Witz sind. Denn online nehmen Hörspiele, obwohl sie nur 6 bis 7 Prozent des Angebotes in der ARD-Audiothek ausmachen, 25 bis 30 Prozent der Hörzeit ein. Das ist ein Pfund, mit dem die ARD wuchern könnte. Bislang führt der Boom der Audioformate im Netz aber lediglich dazu, dass von der Abschaffung des Hörspiels bei kleineren Sendern des öffentlich-rechtlichen Rundfunks wie beispielsweise Radio Bremen nicht mehr die Rede ist. Den Funken Hoffnung gibt es also noch. Ob er im fünften Akt noch glimmen wird?

Jochen Meißner – KNA Mediendienst 09.06.2022

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