Dokumentation, Oliver Sturm: Ideologie, Glaube, Wahn
Am 17. Mai wurde im Funkhaus des Deutschlandfunks, der 66. Hörspielpreis der Kriegsblinden an Lucas Derycke für sein Stück „Screener“ verliehen. „Evangelium Pasolini“ von Oliver Sturm und Arnold Stadler gehörte zu den drei Finalisten. Hier seine Anmerkungen zum Stück, die zuerst in der Medienkorrespondenz 09/2017 erschienen sind.
Anmerkungen zum Hörspiel „Evangelium Pasolini“
Von Oliver Sturm
„Evangelium Pasolini“ ist einfach kompliziert oder – je nach Sichtweise – auf komplizierte Weise einfach. Ich tendiere selbstverständlich zu letzterem. Kompliziert ist das Hörspiel, weil es sich in viele Ebenen bricht, die sich ineinander verschachteln, spiegeln und gegenseitig kommentieren. Christoph Buggert schrieb:
„Würde man die einzelnen Ebenen analysieren, kämen an die zehn Schichten heraus. Das Evangelium – der Film-O-Ton – Synchron-Ton deutsch – das Drehbuch italienisch – das Drehbuch deutsch – Naturtöne aus dem Film, vielleicht aber ergänzt – Stadlers Live-Kommentar, meist berichtend und nacherzählend, gelegentlich aber in die Gegenwart springend – zitierte Stadler-Texte, wahrscheinlich aus „Salvatore“ bzw. diesem Text ähnlich – Pasolini-Zitate – Presseberichte über den Pasolini-Mord – und vor allem: die sorgfältig gewählte und mutig eingesetzte Musik.“
Das Hörspiel ist aber zugleich auch einfach, weil alle Ebenen zusammen ja nichts als die eine, hinlänglich bekannte Geschichte erzählen, und dazu noch chronologisch. „Evangelium Pasolini“ ist die Nacherzählung eines Films von Pier Paolo Pasolini, der die Nacherzählung des Matthäus-Evangeliums ist, das wiederum die Nacherzählung des Berichts der Apostel ist, die dem Evangelisten Matthäus vom Leben Christi erzählt haben, der es ungefähr im Jahr 80 nach Christi aufgeschrieben hat. Das ursprüngliche Heilsgeschehen erscheint gespiegelt im Glanz des Auges des Matthäus, gespiegelt im Glanz des Films von Pasolini, gespiegelt im Glanz des Filmbetrachters Arnold Stadler.
Gefragt, was mir an dem Hörspiel wichtig ist, lautet meine Antwort: das anti-ideologische Programm der Konstruktion. Diese anti-ideologische Wirkung der Spiegelungen und Verschachtelungen ist fast ohne meine Absicht entstanden, sozusagen unbewusst. Aber sie gefällt mir. Alle Elemente des Hörspiels kommentieren sich gegenseitig, sprechen miteinander, verzaubern und entzaubern sich gegenseitig, ‘entpathetisieren’ sich.
Wir erleben derzeit eine Renaissance der großen Ideologien des 20. Jahrhunderts. Restaurative Sehnsüchte nach ‘weißen’, autoritär geführten Nationen hier, antikapitalistische, antiamerikanische, prorussische Regressionsphantasien dort. Dazwischen das neu-alte Feld der religiösen Kollisionen und daneben und überall, von rechts wie links, die ‘VT’, die Welt der Verschwörungstheorien. Das Internet ist voll mit Gesinnungsdebatten. Es ist wie ein LSD-Trip und es geht mehr um Bekenntnis denn um Erkenntnis. Die richtige Sprachverpackung scheint wichtiger als die getane Tat. Auch gutgemeinte Wortschöpfungen wie etwa ‘Geflüchtete’ dienen mehr dem Kollektiv, das diese Begriffe benutzt, als den bezeichneten Personen. Sie fungieren als eine Art Gesinnungsausweis. Dabei lässt gerade die Wortschöpfung ‘Geflüchtete’ Sprachgefühl vermissen, sie ist ein Euphemismus, eine läppische substantivierte Partizipialform, die inhaltlich Falsches ausdrückt: als sei die Flucht beendet. ‘Flüchtlinge’ ist ein Wort mit historischer Würde und die aktuelle Kritik an dem Wort zeugt von gutmeinend fehlgeleitetem Sprachgefühl. (Ich arbeite selbst in der Flüchtlingshilfe.)
Als Pasolinis Film herauskam, löste er insbesondere bei der italienischen Linken einen Sturm der Entrüstung aus. Der Linken war es ein Skandal, dass einer der ihren, ein Kommunist, sich eines religiösen Stoffes annahm, indem er ihn ernst nahm, also ohne sich darüber lustig zu machen, ohne beißenden Spott über DIE KIRCHE auszugießen. Sartre sagte nach einem Treffen mit Pasolini: „Die Linke hat die Frage des Evangeliums verdrängt. Sie kann nichts anfangen mit der Christo-logie. Sie befürchtet, das Martyrium des Lumpenproletariats könnte auf die eine oder andere Weise wie das Martyrium Christi interpretiert werden. Die Debatte wird hart sein, gerade wegen der Figur des Christus, mit der die Linke nicht umgehen kann.“
Als Hersteller von Gebet-Automaten, der ich ja auch bin, werde ich immerzu mit Gesinnungen konfrontiert. Das Gebetomat-Projekt läuft seit dem Jahr 2008. Das Weltgeschehen bildet dabei sozusagen die Begleitmusik und wirft immer wieder neue Beleuchtungen darauf. Inzwischen erkenne ich in den Reaktionen auf meine Maschine dieselben Ideologie-Muster wieder, die sich in den 70er Jahren auch um den Pasolini-Film rankten. Die Konservativen, nennen wir sie ‘die Rechte’, finden den Gebetomat toll, weil er die Religiosität der Welt abbilde und jeder sich auf seine Weise darin versenken könne. Ihnen bleibt der Ironie-Charakter der Maschine, die ja doch die Perversion von Automation auf die Spitze treibt, komplett verschlossen. Die erklärten Atheisten, nennen wir sie ‘die Linke’, betreten die Maschine erst gar nicht und führen einen Stellvertreterkrieg dagegen, indem sie beispielsweise dieses eine in dem Automaten enthaltene Scientology-Gebet inkriminieren und eine mögliche Gefährdung durch den Automaten heraufbeschwören. Auch ihnen bleibt der Ironie-Charakter des Gebetomaten komplett verschlossen. In beiden Fällen hat das Ideologische die Gestalt der totalen Humorlosigkeit.
Mit den Jahren habe ich durch das Gebetomat-Projekt diese beiden Sorten ideologische Bretter vorm Kopf gut kennengelernt. Das erste Brett ist eine Art Weichholz, das zweite eine Sorte Hartholz. Die für mich interessantere Variante ist die letztere, da ich als Schüler von Oskar Negt, Anhänger Hans Mayers und der Frankfurter Schule nun einmal aus demselben Stall stamme, stolz bin, aus diesem Stall zu stammen. Aber die Verhärtung altlinker Positionen, die intellektuelle Sklerose, wie sie im Lauf der 90er Jahre zu beobachten ist, beleidigt diese Denktradition. Dabei liegt die historischmaterialistische Notwendigkeit, sich mit der Frage des Religiösen zu beschäftigen, doch auf der Hand, man schaue sich nur um in der Welt.
Gertrude Stein hat einmal geschrieben, dass es die Kriege seien, die den Menschen eine grundlegende Veränderung erst zu Bewusstsein brächten, dass aber die historische Veränderung selbst schon vorher geschehen sei. Die Kriege würden diese Veränderung lediglich bewusst machen. Und dass, solange der Krieg nicht geschehen sei, die Menschen die ihnen widerfahrenden Veränderungen mit den Erklärungsmustern des vorigen Jahrhunderts zu verstehen suchten.
Meine für manche Kritiker vermutlich irritierende Beschäftigung mit religiösen Gegenständen in den letzten Jahren kommt nicht aus einem frommen Impuls. Ich selbst bin kein religiöser Mensch, obwohl zahlendes Mitglied der christlichen Kirche, die ich für wichtig halte. Ich hänge keiner bestimmten Religion an und bin der Meinung, dass Gott allein durch den Vorgang des Glaubens an ihn entsteht und sofort aufhört zu sein, sobald dieser Vorgang stoppt. Aber mein Staunen über die Welt, wie sie ist, pathetisch gesprochen: über die Schöpfung und ihre Seltsamkeit ist so intensiv, dass es einen quasi religiösen Charakter hat. Pasolini bewunderte an Jesus Christus, dass er die Menschen – und gerade die Ärmsten – als direkt zu Gott begriff, jenseits der Orthodoxie eines pharisäischen Gesetzesbegriffs. Darin bestand die Revolution Christi. An Pasolini selbst ist erstaunlich, dass er sich nicht von dem lächerlich forcierten Atheismus seiner kommunistischen Genossen einschüchtern ließ und den ursprünglichen ‘Kommunismus’ der Figur Jesu zu begreifen sich gestattete. Der Schriftsteller und abtrünnige Theologe Arnold Stadler begeistert sich für diesen humanistischen Eigensinn Pasolinis.
Es ist offenbar sehr schwer, das geschichtlich Neue nicht in den Kategorien der alten Ideologien zu begreifen. Glaube und Ideologie sind zwei verwandte Erscheinungsformen wahnhaften Weltverstehens. Sie sind regressive Methoden der Angstbezähmung: der Angst vor einer noch nicht begriffenen neuen historischen Wirklichkeit. Die Gesinnungsdebatten heute heizen sich bis ins Hysterische auf. Doch wie heißt es in der Bibel: „An ihren Taten sollt ihr sie erkennen.“ Davon unter anderem erzählt das Hörspiel „Evangelium Pasolini“.
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