Dokumentation, Leonhard Koppelmann: Hinter die Worte hören

Archetypisch: „Klaus Barbie – Begegnung mit dem Bösen“

Von Leonhard Koppelmann

Jaqueline Hain, Hans-Dieter Hain (Stv. Bundesvorsitzender Bund der Kriegsblinden Deutschlands e.V.), Peter F. Müller (Autor, nominiert für „Klaus Barbie“), Martina Müller-Wallraf (Hörspielleiterin WDR, Dramaturgin), Petra Müller (Film- und Medienstiftung NRW) © Heike Herbertz / Film- und Medienstiftung NRW

Jaqueline Hain, Hans-Dieter Hain (BKD), Peter F. Müller (Autor), Martina Müller-Wallraf (WDR), Petra Müller (Film- und Medienstiftung NRW) © Heike Herbertz / Film- und Medienstiftung NRW

An einem kalten Dezembertag 2013 spielt uns Gerd Heidemann in seinem verwinkelten Kellerarchiv in Hamburg auf einem alten Kassettenrekorder Ausschnitte aus Gesprächen vor, die er im Jahr 1979 mit Klaus Barbie in Bolivien geführt hat. Kurze Ausschnitte aus insgesamt 14 Stunden Tonbandaufzeichnungen. Wir sind sprachlos: Der „Schlächter von Lyon“ plaudert unbeschwert über seine Taten und Karrieren während und nach der Nazi-Zeit, unterbrochen nur von seinem eigenen Lachen in Freude über das Geschilderte. Es ist das einzige bekannte deutsche Tondokument mit der Stimme Barbies.

Vorausgegangen ist diesem Scoop eine gut zwei Jahre dauernde Recherche von Peter F. Müller über den SS-Mann und dessen Verstrickungen mit den deutschen Geheimdiensten in der Nachkriegszeit. Durch einen glücklichen Umstand traf Peter F. Müller gleich am Anfang der Recherchen auf den jungen Wissenschaftler Peter Hammerschmidt, der zu diesem Zeitpunkt an seiner Dissertation zum Thema Klaus Barbie arbeitete – eine befruchtende Kooperation beginnt. Mit wissenschaftlicher Akribie und journalistischem Gespür werden zahlreiche unentdeckte Quellen über das Leben und Wirken des Nazi-Schergen aufgetan. So finden sich in einem Universitätsarchiv in den USA unter anderem die Prozessakten wieder – die Papiere der französischen Untersuchungsrichter in Lyon stehen in Frankreich bis heute unter Verschluss. 10.000 Seiten, die uns helfen, die Aussagen Klaus Barbies aus den Gesprächen zu überprüfen. Aber Peter F. Müller stößt dabei noch auf eine weitere Sensation: eine Kopie der handgeschriebenen „Memoiren“ von Barbie, erstellt während dessen Zeit im Gefängnis in Lyon.

Diese Form des Journalismus ist extrem aufwendig und mit einem großen materiellen Risiko für die Autoren und Produzenten solcher Doku­mentationen verbunden, denn jede Reise, jedes angekaufte Material muss von ihnen vorfinanziert werden – und bis zur tatsächlichen Fertigstellung der Dokumentation ist kaum gesichert, dass sie diesen Aufwand jemals wieder erwirtschaften werden. Aber jedes aus solch tiefgreifenden, intensiven Recherchen hervorgegangene Stück ist ein Leuchtturm inmitten eines Ozeans aus schnell und oberflächlich produzierter „Information“. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk ist ein zentraler Träger dieser Leuchtfeuer und hoffen wir, dass er diese Orientierungslichter nicht aus Kosten- und Effizienzgründen verlöschen lässt!

Die Produktion „Klaus Barbie – Begegnung mit dem Bösen“ ist auch Beispiel für bimediale Arbeitsweisen, wie sie eigentlich nur im öffentlich-rechtlichen Rundfunk möglich sind. Vor über 15 Jahren führte die WDR-Dramaturgin Martina Müller-Wallraf den Dokumentarfilmer Peter F. Müller und mich zusammen, auf der Suche nach neuen Spiel- und Erzählformen, auch im Umgang mit Dokumenten und brisanten Stoffen. Ein halbes Dutzend Kooperationen von uns beiden zeugt von der erfolgreichen Symbiose. In enger Zusammenarbeit mit der Dramaturgin ist es so gelungen, jenseits einfacher Doppelverwertungsstrategien tiefe inhaltliche Verzahnungen bei gleichzeitig vollständiger ästhetischer Eigenständigkeit und sich ergänzenden und befruchtenden Blickwinkeln und Erzählschwerpunkten zu erarbeiten, die einen echten Mehrwert für die bearbeiteten Themen erzeugen.

Massive moralische Verweigerungshaltung

Bei „Klaus Barbie“ arbeitet das Hörspiel mit einer starken Ich-Perspektive des Protagonisten auf seine Handlungen und Taten, während der gerade entstehende Fernsehdokumentarfilm die Person Barbie stärker im Kontext ihrer Zeit erzählen wird – Zeitzeugen und historische Belege in Ton und Bild spielen hier eine zentrale Rolle. Ausgehend vom gleichen Recherchematerial entstehen so zwei völlig unterschiedliche Annäherungen an den Folterer, Mörder und Kriegsgewinnler Barbie, die zusammengenommen einen tieferen und umfassenderen Eindruck vermitteln können. Das Radio als das beweglichere und schnellere Medium, das selbst im aufwendigen Hörspiel kürzere Vorläufe hat als das Fernsehen, konnte den ersten Aufschlag mit den sensationellen Dokumenten unkompliziert und zügig vorab liefern.

Die zentrale Frage, die sich uns dann bei der Hörspieladaption des Themas stellte, war, ob es legitim ist, diesen Klaus Barbie in seiner ganzen ungebrochenen Selbstherrlichkeit über seine Taten so ausführlich zu Wort kommen zu lassen? In intensiven Gesprächen mit unserer Dramaturgin Martina Müller-Wallraf (WDR) sind wir zu dem Ergebnis gekommen: Man muss es sogar! Die Stimme als Instrument der perfiden Selbstdarstellung des Verbrechers Barbie und der darin liegenden Verführung muss man hörbar machen, um uns darin mit der massiven moralischen Verweigerungshaltung zu konfrontieren, sie kenntlich und vor allem fühlbar zu machen. Gefasst haben wir die Täterstimme durch historisch-wissenschaftliche und journalistische Einordnungen von Peter F. Müller und Peter Hammerschmidt.

Während ein früher Versuch des französischen Autors Robert Merle im Jahr 1952, einen Nazi-Schlächter durch seine eigene Stimme zu entlarven, weitestgehend von der Öffentlichkeit ignoriert wurde (seinem Roman „Der Tod ist mein Beruf“ lagen Interviews mit dem Auschwitz-Kommandanten Rudolf Höß zugrunde), konnte mit „Die Wohlgesinnten“ von Jonathan Littell ein größerer Diskurs über die Legitimität dieses Verfahrens angestoßen werden. In dieser Tradition steht „Klaus Barbie – Begegnung mit dem Bösen“; was den Romanen die „Literarizität“ als Mittel der Brechung und Rückung ihres dokumentarischen Grundmaterials ist, sind im Hörspiel die Stimme und das Spiel des Schauspielers.

Das Böse mit freundlicher Stimme

Mit Felix von Manteuffel steht unserer Produktion einer der besten und wichtigsten Hörspielsprecher der Gegenwart vor. Bei der Arbeit an den Barbie-Originaltexten war es uns wichtig, dass keine habituelle Nachahmung Barbies entsteht, sondern eine freie schauspielerische Interpretation durch Felix von Manteuffel. In der Reibung mit den Originaltönen entsteht so die Möglichkeit, „hinter die Worte“ zu hören und gleichsam den Akt des Sprechens und die Sprache selbst als Mittel für Manipulation und Klitterung spürbar zu machen. Der (hör)spielerische Akt schafft gleichzeitig Nähe und Distanz zur Figur Barbie und entlarvt so den „Schauspieler“ in ihm. Über die reine Faktizität hinaus kommt uns so die Figur Barbie bedrohlich nahe, ohne dass wir aber jemals den notwendigen Abstand verlieren, so dass wir sie dadurch immer in ihrem ungeheuerlichen Wirken betrachten und reflektieren können.

Archetypisch ist Klaus Barbie als mitleid- und reueloser Täter der Nazi-Zeit, der für die Ideologie dieser Zeit steht. Archetypisch ist Barbie als Mensch, der kraft seiner Machtposition und des ihn umgebenden moralischen Vakuums mehr oder weniger machen konnte, was er wollte, sadistisch, erniedrigend, heimtückisch. Eine Typologie, die Klaus Theweleit sowohl in seinem Buch über „Männerphantasien“ wie auch in seinem aktuellen Buch „Das Lachen der Täter“ beleuchtet. So pflanzt sich die Phantasie eines Klaus Barbie fort: der soldatische Mann, der sich wappnet gegen „die Flut des Fremden“ und der sich dadurch zu jeder Tat ermächtigt sieht.

Und dahinter öffnet sich eine noch grundsätzlichere Typologie: Wozu ist man(n) selbst fähig, wenn sich erst die Möglichkeit eröffnet? Wie stark sind wir tatsächlich gefeit vor einem abermaligen Fall in eine derartige „Barbarei“? Davor, Verantwortung zu delegieren an Befehlsketten und Massenphänomene? Erkennen wir souverän das „Böse“, auch wenn es keine entlarvende Fratze schneidet, sondern mit fröhlicher Selbstgewissheit und freundlicher Stimme spricht? Ist es wirklich der rechte Zeitpunkt, einen Schlussstrich unter die Vergangenheit zu ziehen? Oder ist es nötiger denn je, den Mustern in und hinter solchen individuellen Biografien nachzuspüren, um ihnen in Zukunft leichter widerstehen zu können?

 

Begründung der Nominierung

Begegnung mit dem Bösen: Es graust einen, wenn man die gelassen-heitere Stimme Barbies vernimmt, mit er der mehr als 30 Jahre nach dem Ende von Krieg und Naziherrschaft sein Leben erzählt, stolz auf seine Verbrechen, von keinerlei Einsicht oder Reue getrübt, in geradezu heiterem Plauderton; sich amüsiert über die Reaktionen seiner Opfer, stolz darauf ist, wie er ein ganzes Dorf samt Bewohnern niederwalzen und abbrennen ließ, sich mit Genugtuung erinnert, wie er die Führer der Resistance durch Verrat überrumpeln konnte. Es graust einem, wie Barbie sich als verantwortungsvoll stilisiert, selbst entlastet, lügt, wo es passt, und immer noch seinen Führer Adolf Hitler verehrt.

Die Jury bemerkt anerkennend die Recherchearbeit von Peter F. Müller, dieses Interview von 1979 und auch Barbies Aufzeichnungen aus dem Gefängnis in Lyon wiederentdeckt zu haben. Und lobt besonders Felix von Manteuffel, der – neben Barbies eigener Stimme – diese Texte mit einer unheimlichen Mischung aus Plauderton und Abgründigkeit spricht. Und lobt die Regie, die als Kontrapunkt die mühsame und langwierige Recherche und Aufklärung durch Beate Klarsfeld daneben setzt, spannend wie ein Kriminalroman, mit mühsam gefundenen Zeugen, versuchter Entführung und wirkungsvoller Öffentlichkeitsarbeit. Höchst kunstvoll sind die beeindruckenden Dokumente ineinander verflochten.

Begegnung mit dem Bösen: da ist auch ein Umfeld, das einen das Fürchten lehrt. Da sind die Amerikaner, die gerade Deutschland von den Nazis befreit haben, aber Leute wie Barbie gut gebrauchen können für den nunmehr angesagten Kampf gegen den Kommunismus. Der CIC, wie der CIA damals hieß, verhilft ihm zu neuer Identität. Da ist der deutsche Geheimdienst, der gern mitmischt. Da sind hohe Vertreter im Vatikan, die Barbie zur Ausreise nach Südamerika verhelfen. Da ist ein deutscher Staatsanwalt, der ein Verfahren einstellt statt zu recherchieren. Und da ist die Militärjunta in Bolivien, die einen Mann wie Barbie gut brauchen kann für Entwicklungshilfe in Sachen Folter, Verfolgung und Auslöschung von Gegnern.

Ein erschreckendes Stück Zeitgeschichte – ein beeindruckendes Stück Radiokunst.

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