Dokumentation Hörspiel des Jahres 2019 – Jurystatements
Am 22. Ferbruar wurde im Literaturhaus im Frankfurt am Main das Hörspiel „GEH DICHT DICHTIG – Ein Dialog mit Elfriede Gerstl“ als Hörspiel des Jahres 2019 ausgezeichnet. Der Preis ist undotiert aber mit einer Übernahme des Hörspiels in allen deutschen Landesrundfunkanstalten, sowie beim ORF in Österreich und beim SRF in der Schweiz verbunden. Wir dokumentieren hier die Statements der dreiköpfigen Jury Torsten Mergen, Georg Ruby und Ruth Rousselange.
Torsten Mergen
124 Produktionsblätter
Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Mitglieder der Deutschen Akademie der Darstellenden Künste, liebe Mitglieder der Hörspielredaktionen, liebe Preisträgerinnen,
heute ist ein besonderer Tag für Frankfurt: Exakt am 22. Februar des Jahres 794 wurde der Ort Frankfurt am Main erstmalig urkundlich erwähnt, immerhin in einer Urkunde von Karl dem Großen für ein Regensburger Kloster. 1226 Jahre nach diesem denkwürdigen Datum sind wir nun hier zusammen gekommen, um einen traditionsreichen Preis zu verleihen und um gemeinsam das „Hörspiel des Jahres“ zu feiern.
Im Jahr 2019 waren es zwar nicht 1226 Hörspiele, die die Jury zu sichten, zu hören und zu gewichten hatte, aber es waren immerhin insgesamt 124 Einreichungen unterschiedlicher Länge, unterschiedlicher Gestaltung und unterschiedlicher ästhetischer Qualität. Tausende Stunden Sende- und Hörzeit, hunderte Stimmen von Schauspielerinnen und Schauspieler, die quantitative Liste ließe sich – je nach Perspektive und Auswertungsinteresse – in vielerlei Hinsicht erweitern, – ganz zu schweigen von der ungezählten kreativ-künstlerischen Energie, die auch in Produktionen geflossen sein mag, die heute nicht im Zentrum stehen.
Die Jury hatte es mit einem erfreulich breiten Spektrum der Themen und Hörspielgattungen zu tun, nahezu alle denkbaren Formate waren darunter.
Sieben der 124 Hörspiele tragen nun das Prädikat „lobende Erwähnung“ im Sinne eines zweiten Platzes, oftmals Hörspiele, die auf der Basis von epischen Texten, vorrangig Romanen, entstanden sind wie „Zornfried“, „Der Reisende“, „Bilder deiner großen Liebe“ oder „Wild ist scheu“.
Zwölf der 124 Hörspiele sind nun „Hörspiel des Monats“, zusammen füllen bzw. umfassen sie die stattliche Sendezeit von insgesamt 800 Minuten, was im modernen WDR-Sendeformat für 26 Sendetermine à 30 Minuten reichen würde.
Ferner lassen diese zwölf Hörspiele erste Rückschlüsse auf das Hörspieljahr 2019 zu:
- Beginnen wir mit einer Genderperspektive: Acht Regisseuren stehen neun Regisseurinnen gegenüber, ein fast ausgeglichenes Verhältnis.
- Vier Koproduktionen und acht Einzelproduktionen von Sendern wurden ausgezeichnet. Aus Produktionssicht ragt ein Mehrteiler – genauer: Achtteiler – hervor – „Guter Rat – Ringen um das Grundgesetz“, der den Monatsthron im Mai 2019 errungen hat und nicht weniger als drei Produzenten – den WDR, den Deutschlandfunk und den BR – aufweist.
- Hinsichtlich der Monatssieger gilt für das Ranking der Sender – beginnen wir mit den neuen Sendern im Wettbewerb: Erstmalig konnte eine Produktion des SRF jubeln, dreimal der Österreichische Rundfunk. Am häufigsten konnte sich übrigens der Südwestrundfunk freuen, gefolgt von Produktionen des Bayrischen Rundfunks und des ORF – im Falle des Jahressiegers sogar als Koproduktion von BR und ORF. Karl der Große und der Süden, Sie erinnern sich an die Urkunde für die Regensburger Benediktinerabtei St. Emmeran, die auch Pfründe im heutigen Österreich hatte – vielleicht ein gutes Omen?
Thematisch zeichnen sich 2019 einige Schwerpunkte ab, so vor allem mit den markantesten Vertretern in den Feldern Jubiläen durch „Audio.Space.Machine“ anlässlich 100 Jahren Bauhaus, Widmungen wie dem Hörspiel „Drinnen, bei mir bin ich sehr traurig“, das an Joseph Roth erinnert, sowie Literaturadaptionen mit „Aufzeichnungen aus dem Irrenhaus“ oder „Die Nacht von Lissabon“.
Ferner gilt es, herausragende Klangkollagen und Klangkunsthörspiele wie etwa „90 Grad, 0 Minuten, 0 Sekunden Süd“, dokumentarisch-erzählerische Hörspiel-Mehrteiler wie „Guter Rat – Ringen um das Grundgesetz“, Satiren wie „Baader-Panik“ oder Krimiserien wie „Dope“ zu nennen.
124 Hörspiele bedeuten auch 124 Produktionsblätter mit entsprechend aussagekräftigen thematisch-inhaltlichen Ankündigungen: Zwei Auszüge aus den persönlichen Favoriten der Jury:
Zunächst etwas Kulinarisches anhand des Hörspiels „Nyotaimori“: „Nyotaimori ist eine extrem ausgefeilte japanische Tradition, die darin besteht, Sushi vom regungslosen Körper einer nackten Frau zu essen. Diese generationenalte Praxis treibt das Ethos der Geisha auf die Spitze: totale Dienstfertigkeit, Zerstreuung des Kunden und Unterwerfung unter den Kunden. Natürlich bleibt Nyotaimori wegen seiner extremen Kostspieligkeit reichen Männern vorbehalten…“.
Sodann etwas Tierisches: „Alte Männer wissen am besten, wo es langgeht – finden jedenfalls die alten Männer. Dabei entgleiten ihnen die Dinge, und indem sie sich dagegenstemmen, wird alles nur schlimmer: Holger Böhmes Hörspiel ‚Dieter und der Wolf‘ ist der Monolog eines Verlierers und Außenseiters, der den Wolf in sich entdeckt.“
Insgesamt kann aus Perspektive der Jury resümiert werden, dass die Qualität der Beiträge recht hoch anzusetzen und in manchen Monaten auch recht dicht gewesen ist, was – auch wegen der unterschiedlichen Gestaltung und der daraus resultierenden Schwierigkeiten im Vergleichen der Produktionen – der Jury die Auswahl der Preisträgerinnen bzw. Preisträger nicht in jedem Monat leicht gemacht hat.
Zum Abschluss möchte ich gerade deswegen festhalten: Gut geht es dem Preis, wenn die Jury in der Fülle der Qualitäten es schwer hat, auszuwählen und dafür jeden Monat im Schnitt 198 Minuten zusammen gesessen, beraten und gerungen hat.
Georg Ruby
GEH DICHT DICHTIG aus Sicht eines Jazzmusikers
Meine Damen und Herren,
wenn in dieser Jury mit meiner Person schon ein improvisierender Musiker aus dem Bereich des Jazz sitzt, möchte ich Ihnen gerne aus
dieser Perspektive einige Gedanken zu „GEH DICHT DICHTIG! nahebringen.
Natürlich ist die Produktion eines Hörspiels sonst extrem arbeitsteilig – manche SchauspielerInnen sehen sich im Produktionsprozeß nicht einmal -, und natürlich ist bei „GEH DICHT DICHTIG! ein Manuskript vorhanden, sind Rollen verteilt, aber die Wirkung des Produzierten auf mich ist an vielen Stellen so, als hätte hier in der Umsetzung des Ganzen eine Jazz-Combo miteinander agiert und sich aus dem Augenblick heraus in einen grandiosen Ideentausch hineingespielt.
Das mag an dem, uns Jazz-Musikern sehr vertrauten, kollektiv organisierten Entstehungsprozeß der Produktion liegen, aber vor allem auch an der spürbar vorhanden Improvisationsfreude der Schauspielerinnen; dazu einer Regie, die genau dieses zuläßt oder sogar aktiv propagiert – und natürlich daran, daß mit Lauren Newton eine frei improvisierende Musikerin einbezogen wurde, die die beiden sprechenden Protagonistinnen miteinander verbindet, oft provokativ unterstützt – und das Ganze auf Augen – oder sollte ich sagen – Ohrenhöhe.
Zudem wurden Lauren Newtons „instant composings“ – aus dem Augenblick heraus erfundene Improvisationskompositionen – nicht wie
so oft die Musik bei Hörspielproduktionen in den Hintergrund gemischt, zum Background degradiert, sondern bei der Postproduktion auf exakt dieselbe Pegelebene der beiden Schauspielerinnen gehoben – und so erweitert sich hier der Dialog oft in einen spannenden Trialog.
Diese sehr gute Idee schafft für mich an vielen Stellen der Produktion eine außerordentliche Musikalität, eine Verbindung von Sprache mit
Sprachwandlung, die mir, wenn ich mich in manchen Augenblicken des Hörens von „GEH DICHT DICHTIG richtig konditioniere, eine zweite Erlebnisebene schafft, mir die Möglichkeit gibt, alle drei Stimmen als musikalisches Ereignis, als lebendige Musik wahrzunehmen, auch ohne die Bedeutung der jeweils gesprochenen Worte erfassen zu müssen. Für mich ist das nichts anderes als ein zweites Hörspiel im ersten und – zusätzlich zu allem vorher schon Gelobten und Gefeierten – ist „GEH DICHT DICHTIG!“ daher auch eine absolut außergewöhnliche Produktion.
Ruth Rousselange
Hörspieljury 2019 – eine Bilanz
Bemerkenswertes:
Die Melodik der Texte
Die Prägnanz der Stimmen, Stimmen wie Kindheitsmelodien, Töne wie Farbtupfer, Geräusche wie erinnerte Gerüche
Die Hingabe an den Stoff, das Aufgehen in einer Geschichte
Es gab (Themen):
Den einsamen Tod im Wald, realitätsflüchtige Väter, irrwitzige Gespräche mit philosophischen Egozentrikern
Es gab Selbstaufgabe und Selbstsuche, omnipräsente Mütter und ein Bücherbett im Straßenkrater als Grab
Es gab die Schwerelosigkeit im Weltraum, die Konzepte des Bauhauses, das Ringen um das Grundgesetz – erstaunlicherweise auch das spannend
Zwei melancholische, alte Schweizer ohne Schnee und ihr Schlepplift, tieftraurige Lebensbilanzen, verfehlte Lieben und verstörende Aufzeichnungen aus dem Irrenhaus
Es gab das unerbittliche Vergehen von Zeit, das Vergessen, das Vergessenwerden und die irritierende Transformation der Dinge
Es gab das Leben, Tod und auch den Teufel, braun, gesundgesinnt und selbstgerecht
Ewige Landschaften, Jahreszeiten, Zeitmaschinen
Es gab Satire, Rührstück, Roman, Dialog, Monolog und Dokumentation
Und es gab immer wieder: Die schiere Schönheit von Worten, Sentenzen und Klängen, die kristalline Klarheit betörender Sprachgebilde, bezwingende Lyrik, den Triumpf des Gesprochenen und einen tiefen Genuss beim Hören
Ruth Rousselange
Hörspieljury 2019 – ein Gedicht
Wir haben es im Ohr.
Wir haben gehört
Hingehört
Reingehört
Tief gehört
Viel gehört
Die Lauscher gestellt
Die Ohren gespitzt
Die Schotten aufgemacht
Alles in uns hineingelassen
In unsere Köpfe
Unsere Hirne
Unsere Herzen
Wir wurden geflutet
Es hat uns durchtost
umspült
Durchpulst
Wir vibrierten
Fieberten
Litten
Lachten
Wir fühlten mit
Wir waren angefüllt
Von Worten
Sätzen
Stimmen
Klängen
Lauten
Immer wieder Stimmen
So vielen
Schönen
Rauen
Kruden
Wir gewichteten
Werteten
Wählten
Und wir wussten
Es kann nur eines geben
Ein Hörspiel 2019
Wir haben es
Im Kopf
Im Hirn
Im Herz
Wir haben es im Ohr
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