Doch man hört nur die im Schatten …
Sabine Bergk: Gilsbrod
Deutschlandradio Kultur, So 27.01.2013, 18.30 bis 20.00 Uhr
Schon ihre Mutter hatte Abend für Abend in ihrer goldbarocken Muschel am vorderen Bühnenrand des kleinen Stadttheaters gesessen und den Bühnenheroen souffliert. Doch die Ich-Erzählerin darf nicht mehr in dem Zentrum sitzen, in dem sich das Rauschen der Welt konzentriert, denn die Muschel wird auf Drängen der Provinzdiva, der Opernsängerin Frau Gilsbrod mit den großen Zähnen, abgeschafft. Seitdem sitzt die Souffleuse am Bühnenrand mit schlechter Sicht nach vorne und schwatzenden Technikern im Rücken. Während sich also die Gilsbrod mit einer falsch angesetzten Koloratur („non sa…“ statt „non so d’amarti“ – „Ich weiß nicht, dass ich dich liebe“) zum viergestrichenen C aufmacht, das sie erst seit einem etwas peinlichen Sexunfall, bei dem eine Oboe und eine Klarinette eine gewisse Rolle spielten, zu erreichen vermag, macht sich die Souffleuse so ihre Gedanken.
Sabine Bergks 130-seitige Erstlingsnovelle „Gilsbrod“ ist ein permanenter Redefluss, der vom (Musik-)Theater in all seiner Klischeehaftigkeit handelt und von den Versehrungen der dort Beschäftigten. Weil es aber auch um die Geburt des Gesangs aus dem Geist des ersten Babyschreis und, wenn auch nur mittelbar, um die Geburt des Redens aus dem Geist des Hörens geht, hat der Text auch seinen Platz im Radio gefunden. Leopold von Verschuer hat mit dem Musiker Bo Wiget und der Schauspielerin Kirsten Hartung, die alle Stimmen übernimmt, aus dem einen, 130 Seiten langen Satz der Vorlage ein rund 90-minütiges Hörspiel gemacht. Nun hört man im Radio in den seltensten Fällen die Interpunktion (oder die Interpunktionslosigkeit) eines Textes – zumal der Text von Sabine Bergk in üblicher Syntax und Grammatik gebaut ist.
Was man aber hört, ist die dramatische Struktur der Geschichte, die in einem langen Crescendo gipfelt – eben jener Koloratur, die letztendlich sowohl mit einem ozeanischen Glücksgefühl als auch mit der Vernichtung des Theaterbaus zusammenfallen wird. Denn während die Gilsbrod sonst ihre lauten Töne immer so ins Publikum schreit, als würde sie Ohrfeigen verteilen, wird ihr erstes Pianissimo zur künstlerischen Offenbarung und erlaubt es auch endlich der sonst immer zum Flüstern verpflichten Souffleuse, laut herauszulachen. Nicht nur was Triebverzicht und Triebabfuhr betrifft, sind die Figur der Gilsbrod – echte Diven brauchen keinen Vornamen – und die Figur der namenlosen Souffleuse genau spiegelbildlich konstruiert. Die eine eine „Notenmaschine, die an der Nähmaschine sitzen und die Stoffe durchjagen könnte und es käme immer dieselbe Gilsbrodgardine heraus“. Die andere das empfindsame Mobbingopfer im Schatten.
Dass diese klischierte Figurenzeichnung nicht unangenehm auffällt, liegt auch an der drastischen Komik und dem repetitiven Übertreibungsgestus, dem sich seit Thomas Bernhard wohl jede Innenansicht des Theaters unterwerfen muss. Außerdem stürzen ständig Scheinwerfer aus dem Bühnenhimmel auf den Chor herab und diese beiläufigen Reminiszenzen an das absurde Theater tragen ebenso zur Unterhaltung bei, wie Seitenhiebe auf aktuelle kommunale Kulturpolitik: Es mache nämlich keine Unterschied, ob man nach dem Schulabschluss zum Theater oder zur Sparkasse gehe, weil inzwischen alle Institutionen zu Sparkassen geworden seien. Auch das Theater hier, ehemals noch ein Drei-Sparten-Haus, hat das Ballett schon weggespart. Jetzt bemüht man sich verzweifelt, den letzten Rest von Glamour, die Gilsbrod nämlich, zu halten.
Kirsten Hartung darf in dem klug gebauten und motivisch stimmigen Text brillieren und chargieren; Regie und Sounddesign spielen mit den Möglichkeiten akustischer Räume, ohne die Effekte zu übertreiben, und dennoch beziehungsweise gerade deswegen geht in diesem hochkomischen Hörspiel alles ein wenig zu glatt. Die Rechnung, die Sabine Bergk dem Theater aufmacht, geht ohne Rest auf. Und manchmal wünschte man sich eben, dass die eine oder andere Unbekannte in der Gleichung nicht ganz aufgelöst würde.
Jochen Meißner – Funkkorrespondenz 07/2013
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