Die Zeit erzählen
Christoph Buggert: Vier Versuche über die Zeit
SWR 2, Do 18.09.2014, 22.03 bis 23:00 Uhr
Die Zeit ist eine merkwürdige Ressource. Man kann nicht beliebig über sie verfügen, sie verrinnt automatisch und man kann sie nicht einsparen (wie wir seit Michael Endes Roman „Momo“ wissen und falls man nicht der hier erwähnten Zeit-ist-Geld-Dystopie von Andrew Niccol anhängt). Seit die industrielle Revolution im 19. Jahrhundert die Welt unter ihr Zeitregime unterworfen hat, kann man ihre Produktivität erhöhen. Die Ideologie der Effizienzsteigerung hat mit der Ökonomisierung aller Lebensbereiche auch das private Leben erobert. Der inzwischen 77-jährige Christoph Buggert, lange Zeit selbst Chef eines zeitbasierten Mediums, nämlich der Kulturwelle HR 2 des Hessischen Rundfunks erzählt in seinem neuen 56-mintüigen Hörspiel „Vier Versuche über die Zeit“ kleine, gemeine Geschichten, in denen Zeit eine besondere Rolle spielt.
Der erste Versuch „Die Überforderung“ handelt von einem miserabel bezahlten wissenschaftlichen Assistenten an einem universitären Institut für Neuere Geschichte und Betreiber der eher schlecht gehenden „Text-Agentur Dr. Gregor Theunissen“. Weil er von den Einkünften seiner Frau Vera abhängig ist, fühlt er sich genötigt den Ritualen eines role-models zu folgen, für das früher die „Hausfrau“ paradigmatisch stand. D.h. er macht es sich zur Aufgabe täglich nach Feierabend „als zärtlich gestimmtes Begrüßungskommando“ die Ehefrau zu erwarten. Zum Ausgleich gönnt er sich ein jeden Donnerstag um 16.30 Uhr stattfindendes Liebesabenteuer mit der Institutssekretärin – eine Angelegenheit die im wahrsten Sinne des Worten minutiös geplant werden muss. Denn natürlich muss das Techtelmechtel in den auf Selbstoptimierung abgestellten Tagesplan eingepasst werden.
Regisseurin Bernadette Sonnenbichler unterbricht die um Exaktheit bemühten Schilderungen Gregors mit Miniaturgeräuschen (Komposition: Martina Eisenreich), die jeweils kaum eine Sekunde dauern und dem Ganzen nicht nur einen ironischen Drive verschaffen, sondern außerdem einen Slapstick-Charakter verleihen, der in reizvollem Kontrast zu den loriotschen Anstrengungen der monologisierenden Figur stehen. So komisch schon die selbstreflexiven Beobachtungen Gregors sind, die Pointen gehen des Öfteren auf das Konto der Soundschnipsel. Klar, dass es aufgrund der Tücke des Objekts (hier der Zeit) erst gar nicht zum erhofften Koitus kommt – und zu spät nach Hause kommt Gregor auch noch.
Handelte der erste Versuch noch von der Verdichtung von Zeit, geht es im zweiten Versuch „Führungsetage“ um die Koordination von Raum und Zeit – was im Krimi gerne zu der Frage führt: „Wo waren sie am Abend des 13. zwischen 20.00 und 24.00 Uhr? Um auf eben diese Frage eine plausible Antwort geben zu können, ist einiger Aufwand nötig, wenn sich große Teile des mittleren Managements dazu verschwören den Finanzdirektor zu beseitigen. Das macht nicht nur die Koordination von Alibis entsprechend kompliziert, auch die Kommunikation über ebenso scheinbar unverfängliche Codewörter („bengalischer Meridian“) und andere Zeichen. Um die Sache noch weiter zu verkomplizieren, bedient sich Buggert des Tricks den Hörer scheinbar mehr wissen zu lassen, als die Figuren – nur um sie umso gründlicher reinlegen zu können. Die Form der Übersteigerung bietet natürlich ein enormes parodistisches Potential, das in kurzen Einlassung zum Kriminalroman auch noch in der Geschichte selbst reflektiert wird.
Nach der Alibibeschaffung handelt Versuch Nummer Drei „Freispruch selbstgemacht“ von einer wegen wiederholten Diebstahls von funkgesteuerten Weckuhren zu einer Freiheitsstrafe verurteilten Frau. Ihren Widerstand gegen die ihr von der Justiz tagesgenau zugemessene Freiheitsstrafe von vier Monaten und sieben Tagen, formuliert sie brieflich an die Ministerin. Also an die Chefin jener Behörde, die als Zentralverwaltung der Zeit eben diese exzessiv als „Marterinstrument“ benutzt. Um die Menschheit von der Geißel der Zeit zu befreien, stellt die Frau ihre Haftstrafe zu Verfügung, auf dass sie in handlichen Portionen von je 60 Minuten von den Mitarbeitern der Behörde abgesessen wird, angefangen bei der Ministerin über die nachgeordneten Staatsanwälte und Richter bis schlussendlich die Institution, die die Zeit kontrolliert, sich in einem revolutionären Akt selbst aufhebt.
Das vierte Experiment „Unser Mann aus Dublin“ schließlich spielt wieder in der Arbeitswelt, in der der Chef nach Dienstschluss, neidisch beäugt von seinen Untergebenen 15 Runden auf dem Sportplatz dreht, jede Runde in genau 1:28 Min. Das geht – verkürzt gesagt – so lange gut wie es gut geht, die (Runden-)Zeiten schlechter werden und der Mann schließlich tot umfällt. Der Linearität der Zeit ist nicht zu entkommen, selbst, wenn man sie gerne zyklisch auffassen würde. Mit dem engagierten Ensemble (Florian Busch, Katharina Zapatka, Anna Moll, Wolfgang Michael und Martin Umbach) zeitigen Christoph Buggerts „Vier Versuche über die Zeit“ Ergebnisse, die man in ihrer absurden Komik so nicht erwartet hätte.
Jochen Meißner
Schreibe einen Kommentar