Die Ruhe vor dem Sturm
Irina Liebmann: Erzähl mir von Russland
RBB Kulturradio, Fr 14.11.2014, 22.05 bis 23.00 Uhr
Seit dem Jahr 2000 ist die neue russische Nationalhymne wieder die alte. Die der alten Sowjetunion. Der Präsident der Russischen Föderation, Wladimir Putin, hatte den Text zu seinem Amtsantritt umdichten lassen, von dem Mann, der schon die Hymne der Sowjetunion geschrieben hatte. In Moskau thront auf den Kremltürmen jetzt neben dem roten Stern wieder der zaristische Doppeladler. Die Schriftstellerin Irina Liebmann, 1943 in Moskau als Tochter eines deutschen Journalisten geboren, war noch ein Sowjetkind, bevor sie mit ihren Eltern 1945 nach Berlin zog. Sie studierte in Leipzig Sinologie, arbeitete zunächst als Redakteurin für eine Zeitschrift, dann als freie Schriftstellerin in Ost-Berlin. 1988 siedelte sie nach West-Berlin über.
Die Vorlage für Liebmanns Hörspiel „Erzähl mir von Russland“ ist die im vergangenen Jahr erschienene Erzählung „Drei Schritte nach Russland“. Sie wolle Russland kennenlernen, denn bislang habe sie nur die Sowjetunion gekannt, sagt die Ich-Erzählerin, hinter der wir die Autorin vermuten dürfen. Doch die Sowjetunion geistert immer noch durch Russland. Genauer gesagt, sie steht überall herum und im Weg: als neue Fabrik, als alte Fabrik, als Kino und als Wohnblock und tief unter der Erde als Metro. Durch das 55-minütige Hörspiel unter der Regie von Barbara Plensat mit der fein ausgesponnenen Musik von Sabine Worthmann geistert das Sowjetsystem als kollektives Sprechen. Nur dass die Sprechchöre nicht mehr die alten Parolen skandieren, sondern aktuelle Werbespots von international agierenden Firmen wie Media Markt oder Kärcher. Forschend bewegen sich die Erzählerin (Johanna Schall) und ihr Alter ego (Valery Tscheplanowa) durch die im Hörspiel stets angesagten Orte.
Die erste Reise führte die Autorin Irina Liebmann 1983 zu ihrer Tante, die im tiefsten Sibirien weit hinter dem Baikalsee in einer Einzimmer-Neubauwohnung lebte. Die zweite Reise ging im Mai 2009 für einen Monat nach Moskau, die dritte im darauffolgenden Winter nach Kasan, Hauptstadt der russischen Republik Tatarstan. Die beiden letzten Reisen werden mit Stürzen enden.
Der Staat, der einmal eine Weltmacht war und nach 1990 ohne Krieg zusammengeschrumpft ist, hat in den letzten 20 Jahren auf das Ende einer Menschheitsidee mit „dröhnendem Verstummen“ reagiert. Man wohnt in denselben miesen Wohnungen, nur dass die nach Ende der Sowjetunion billig an die Mieter verkauft wurden und der Verfall nicht mehr dem Staat angelastet werden kann. Inzwischen regiert wieder die Angst. Demonstranten gucken sich misstrauisch an und fragen sich, wer hier ein Spitzel sein könnte, während ihnen gegenüber die Milizionäre der Polizei-Sondereinheit OMON auf ihren Einsatz warten. Auf den Moskauer Militärparaden zum 8. Mai, die nach der Perestroika 18 Jahre lang ausgesetzt worden waren, werden jetzt wieder die Interkontinentalraketen zur Schau gestellt.
Als die Ich-Erzählerin, zurückgekehrt von ihrer Moskau-Reise, eine billige Ikone der Heiligen Gottesmutter von Kasan aufhängt, bleibt als Folge dessen die Wohnung dunkel: Der Nagel hat die Elektrik außer Betrieb gesetzt. Eine Metapher, die zur nächsten Reise nach Kasan führt. Eine Stadt, die der Erzählerin europäischer vorkommt als Moskau und in der sie im Kloster der Heiligen Gottesmutter von Kasan ein Zwiegespräch mit der Madonna führt.
Irina Liebmanns zum Hörspiel gewordene Erzählung fängt den Moment der Ruhe vor dem Sturm ein. Den Moment, bevor der Präsident, der im Geheimdienst der Sowjetunion Karriere gemacht hatte, wieder großrussische Ansprüche stellt und das Land militärisch vergrößert. Derweil wird im Fernsehen über die Rolle Stalins geredet, über den Führer, den das Volk so geliebt hatte.
Auf dem Weg zurück nach Berlin entdeckt die Erzählerin bei der Besichtigung einer Moskauer Kirche finstere Figuren, die aus schwärzlichen Pinselstrichen bestehen. Es ist das jüngste Gericht, das an die Westwand gemalt worden ist. Von Westen sei für Russland schon immer das Böse gekommen und so sei es geblieben, sagt die Frau, die die Ich-Erzählerin herumführt. In einem anderen Raum befinden sich als Kontrastbild menschengroße Engelsfiguren mit roten Flügeln. Einem Rot von derartiger Intensität, dass es die russischen Avantgardisten der frühen 1920er Jahre als Kraftquell für ihre Sache benutzt haben und das Irina Liebmann zu einer Formel inspiriert, die die Geschichte Russlands seit der Oktoberrevolution umfasst: „Aggregate, roter Flügel, unerlaubter Flug“. Der Dualismus von Rot und Schwarz, von christlicher Orthodoxie und untoter Sowjetmacht ist das neue Russland, das Irina Liebmann gefunden hat. Da stolpert sie über die nächste Bordsteinkante.
Jochen Meißner – Funkkorrespondenz 46/2014
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