Die Preisträger des 9. Berliner Hörspielfestivals 2018
Mit der Verleihung des Jurypreises /// Das lange brennende Mikro ging am 29. April im Berliner Theaterdiscounter das 9. Berliner Hörspielfestival – Das Festival des freien Hörspiels zu Ende. Mit insgesamt fast 200 Stücken in vier Kategorien verzeichnete das Festival einen neuen Einreichungsrekord.
Das Preisträgerstück war „Wendy Pferd Tod Mexiko“ der österreichischen Autorin Natascha Gangl und dem Elektroakustik-Duo Rdeča Raketa (Maja Osojnik und Matija Schellander). Die vierköpfige Fachjury, die Schauspielerin Bettina Kurth, die Vorjahressiegerin Tina Saum, der Medienwissenschaftler Golo Föllmer und der Hörspielkritiker Jochen Meißner (Autor dieses Blogs), beeindruckte die hochenergetische Komposition, in der Wendy, sonst Heldin präpubertärer Pferdefreundinnen-Comics, auf den mexikanischen Totenkult trifft. „Eine Geschichte, die jemand geworfen hat ohne Ziel“, nennt Natasha Gangl ihr assoziativ gebautes Stück, durch das sich als roter Faden eine Blutspur zieht.
Den zweiten Preis in der Kategorie für Hörspiele mit einer maximalen Länge von 60 Minuten teilten sich Tom Heithoffs episodisches Hörspiel „Dummrum“, in dem die Verweigerungshaltung des „Doch-lieber-nicht“ gefeiert wird, mit dem Stück „Hanna“ von Silvia Plail, das formal wie inhaltlich mit konsequent-redundanten Selbstbefragungsschleifen überzeugte.
Der Publikumspreis /// Das kurze brennende Mikro für Stück bis 20 Minuten Länge ging an die fiktive Dokumentation „Der Betonflüsterer“ von Jan Bolender, in dem die Form des klassischen Kulturfeatures präzise parodiert wurde. Das Stück wurde bei seiner Aufführung im Theaterdiscounter von Johannes Meyerhoefer live am Klavier begleitet.
/// Das glühende Knopfmikro für Stücke bis 5 Minuten Länge ging das Stück „die weite weite sofalandschaft“ von Malte Abraham, in dem der Familienernährer sein Faxgerät aus der Firma mitbringt, um von zuhause aus zu arbeiten, sich aber konsequent weigert die Badewanne zu verlassen. Das Stück ist Teil eines größeren Projektes, das die Transformation der Arbeitswelten in den letzten Jahrzehnten thematisiert.
Der immer erst kurz vor dem Festivalbeginn ausgeschriebene Wettbewerb /// Der MikroFlitzer für Stücke, die maximal 60 Sekunden lang sein dürfen, knüpfte diesmal zwei Bedingungen an die Teilnahme: Der Satz „Es ist nur eine Fleischwunde“ musste vorkommen und das Geräusch eines verrostenden Fahrrads. Gewinnerstück war die Doku-Fiktion „Späte Wiedervereinigung“ von Sebastian Hocke, in der eine verschollene Radsportgruppe erst 29 Jahre nach der Wende wieder auftaucht.
Alle Preise waren mit hochwertigem Audio-Equipment dotiert. Jedes Hörspiel wurde mit einem eigenen, live gemischten Visual von Josef-Maria Schäfers begleitet. Einen optischen Eindruck des Festivals kann man in einem Beitrag des arte-Journals vom 30. April 2018 bekommen:
Die Begründung der Jury für die Auszeichnung von „Wendy Pferd Tod Mexiko“
Wenn eine Reihung von Substantiven ausreicht, um eine Geschichte zu erzählen, oder genauer gesagt, eine Geschichte zu vermeiden, braucht es keine Verben. In „Wendy Pferd Tod Mexiko“, dem akustischen Bilderzyklus von Natascha Gangl und dem Elektroakustik-Duo Rdeča Raketa (das sind Maja Osojnik und Matija Schellander) reichen zwei Eigennamen und zwei Substantive aus, um den kulturellen Kosmos zwischen der Heldin eines präpubertären Pferdefreundinnen-Comics und dem mexikanischen Totenkult entstehen zu lassen.
Da öffnet sich „eine Geschichte, die jemand geworfen hat ohne Ziel“ und sie trifft die Hauptfigur mit den dicken blonden Haaren wuchtig mitten in die Stirn – ein Augapfel fällt heraus und ihr wird die Frage gestellt: „Was willst Du sehen?“ Aus der (Kunst-)Geschichte des Surrealismus wissen wir, dass der erste Schnitt durch das Auge geht. Und was ist das Schlussbild in Natascha Gangls Hörspiel anderes als ein surrealistisches, auf dem ein Pferdekadaver wieder Fleisch ansetzt und zu singen beginnt. Vielleicht weil er das Wort gefunden hat, dass im Spanischen jeden Tag wieder neu nachgeschlagen werden muss: das Wort heißt „el principio“ – der Anfang.
„Einmal sind da überall Blutspuren, ist das der rote Faden, ist er das?“, fragt sich Wendy, die nach Mexiko gekommen ist, um Pferderennen zu gewinnen und – konfrontiert mit den Realitäten dort – einer höheren Instanz das Versprechen abnehmen will auf keinen Tod Einfluss nehmen zu können. Denn die Linearität der Geschichte ist eine blutige und wir hören sie in verstörend realen Geräuschen und O-Tönen aus Mexiko wie auch in einem aggressiven Punksong. Die Wucht mit der Wendy in ein grausiges Wonderland geworfen wird, in der sich die Welten der Lebenden und der Toten überschneiden, spürt man in den hochenergetischen Kompositionen von Rdeča Raketa.
„Normalerweise hört man auf die Bedeutung und überhört die Stimme. Man hört die Stimme nicht richtig, weil sie von der Bedeutung überdeckt ist, aber die Bedeutung ist gestorben und die Stimme des Gestorbenen, sie fragt mich: was willst du sehen?“, heißt es im Hörspiel. Und obwohl es im Hörspiel prinzipiell nichts zu sehen gibt, spannt das Hörspiel ein beeindruckendes akustisches Panorama auf.
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