Der Tremor der Gegenwart

Björn SC Deigner: zusammen zittern

SWR 2, Do 21.04.16, 22.03 bis 22.54 Uhr

Wenn es stimmt, dass die Weltwahrnehmung von der Wahl des Betriebssystems abhängt, wie es Björn SC Deigner in seinem Hörspiel „zusammen zittern“ behauptet, dann ist die von ihm mit Hilfe des Betriebssystems Radio induzierte Weltwahrnehmung eine zersplitterte und nicht-lineare. Vier durchnummerierte aber ineinander verschachtelte Komplexe mit den Titeln „Habitat“, „Hacke auf Kopfstein“, „Körperschmiede“ und „Media Fallback“ durchziehen in ständigem Wechsel das 51-minütige Hörspiel.

Während im „Habitat“-Teil ein Zwillingspaar vor seinen PC-Bildschirmen „auf der Suche nach E-Petitionen das digitale Gestrüpp mit der Machete des Verstandes bearbeitet“ oder sich doch lieber mit dem Ego-Shooter-Spiel „Halo“ beschäftigt, verrottet die Wohnung langsam. In sprachverliebten Bildern beschreibt Björn SC Deigner, wie sich „ein Rohr entschließt zu brechen“ und „die Abhängigkeit des Prinzips Abfluss von der Schwerkraft verweigert wird“ will heißen: der Bodenbelag wird langsam zu einem fruchtbaren Feuchtbiotop. Auch die Biologie der Bewohner degeneriert. Man nähert sich dem Zustand der Selbstvergessenheit, der bei der eigenen Körperwahrnehmung beginnt und bei der versagenden Kontrolle über die eigenen Körperfunktionen endet.

In den Episoden „Hacke auf Kopfstein“ geht eine gendermäßig unscharfe Person in hochhackigen Schuhen über Kopfsteinpflaster. „Ich habe keine singuläre Geschichte, alles was ich habe, sind Geschichten, Storys, die zusammengebunden das Bild von mir ergeben“, sagt die Figur von sich selbst. Doch das gilt natürlich für sämtliche Figuren des Stücks und ist die Formel, nach der das Hörspiel „zusammen zittern“ gebaut ist. Thema von „Hacke auf Kopfstein“ ist der Rausch, der sich durch die Adern der Figur bewegt wie ein Zitteraal. Die Sucht ist die Ausweichbewegung gegen die Zumutungen der Selbstoptimierung. In einem Penner vermeint sie eine Künstlerfigur der Verweigerung zu erkennen, von der sie sich Erlösung verspricht. Im Teil „Körperschmiede“ geht es um eine Entführung durch Aliens, bei der es zu den üblichen medizinischen Untersuchungen kommt, die man bei so etwas zu erwarten hat. Das Ganze kulminiert in einer apokalyptischen Verschwörungstheorie. Thema ist hier aber die Körperlichkeit selbst, die nicht mehr als unhintergehbare Basis von Identität taugt.

Einen akustisch hochdynamischen Teil des Hörspiels nimmt die Episode „Media Fallback“ ein. Eine Autobahnfahrt von Brandenburg nach Schleswig-Holstein von Funkloch zu Funkloch entwickelt sich zu einem Horrortrip für die Fahrerin, weil sie unbedacht auf Facebook einen Artikel über den Boykott von Produkten aus den besetzten Gebieten in Israel geteilt hat. Der Shitstorm bricht los. Facebook-Freunde halten sie plötzlich für eine Antisemitin und weil sie den authentischen Fall der PR-Agentin Justine Sacco kennt, gerät sie berechtigterweise in Panik. Sacco hatte vor einem Flug nach Südafrika einen blöden Witz getwittert und war elf Stunden und ein paar zehntausend Tweets später bei der Landung ihren Job los. Die Geschwindigkeit auf der Autobahn inszeniert Björn SC Deigner, der auch Musiker ist und aus der berühmten Gießener Schule für Angewandte Theaterwissenschaft kommt, als Parallelmontage sprachlich wie rhythmisch mitreißend.

Die vier Themenkomplexe, die vordergründig wenig miteinander zu tun haben, verschränken sich im Lauf des Stückes immer mehr. Sie sind nicht nur über die Metaphernfelder von Wasser und Körper miteinander verbunden, sondern natürlich auch über die Stimmen von Hanna Plaß, Nico Holonics und Matti Krause. So disparat sie daherkommen, handeln doch alle Geschichten von einem Zeitalter der Nervosität, der Neurasthenie und der Hysterie. Schon an der Wende zum 20. Jahrhundert waren das beliebte psychotherapeutische Diagnosen, die aber nicht nur auf Personen, sondern auf ganze Gesellschaften angewendet wurden. Wenn man Björn SC Deigner glauben will, wird gegenwärtig der Tremor stärker – und er erschüttert sogar das Konzept von Identität selbst. „Zusammen zittern“ ist ein Hörspiel, das den Hörer auf unterhaltsame Weise überfordert und das auf verschiedenen diskursiven Ebenen Anknüpfungspunkte bietet. In seiner erzählerischen und musikalischen Struktur funktioniert das so nur im Hörspiel. Mehr davon!

Jochen Meißner – Medienkorrespondenz 9/2016

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