Der Resonanzraum der Musik
Andreas Ammer/FM Einheit: Everest
WDR 3, Mo 15.09.2014 / WDR 1Live, Di 16.09.2014, jeweils 23.05 bis 0.00 Uhr
Sowohl das Unsagbare als auch das Ungesagte üben eine besondere Faszination auf jene Künste und Künstler aus, deren Berufung das Sagen des Sagbaren ist. In linearen Medien wie der Musik oder dem Hörspiel ist die Pause der Kristallisationspunkt dieser Faszination. Dass es die Pausen seien, um die es eigentlich gehe, und dass das Schweigen das eigentlich Erhabene sei, ist so zu einem oft nachgeplapperten Gemeinplatz geworden. Andreas Ammer und FM Einheit, ein Elternpaar des Pop-Hörspiels, ficht so etwas nicht an, auch wenn ihr neues Stück „Everest“ sich um eine Platte dreht, die nach dem letzten Stück („The End“) eine prominente, gut 20-sekündige Pause enthält, bevor das allerletzte Stück („Her Majesty“) kommt, das nur wenige Sekunden länger ist als die Pause zuvor – ein Hidden Track aus dem analogen Zeitalter.
Die Platte, um die es hier geht, hätte „Everest“ betitelt werden sollen – nach der Zigarettenmarke, die der Toningenieur Geoff Emerick bevorzugte und deren Name auf den höchsten Gipfel des Himalayas verweist. Doch die Band hatte nach Fertigstellung des Albums keine Lust, nach Nepal zu jetten, um ein Foto zu machen, und so sind John, Paul, George und Ringo einfach vor die Studiotür gegangen, haben einen Zebrastreifen überquert und fertig war das ikonische Coverfoto des Beatles-Albums, das jetzt „Abbey Road“ genannt wurde.
Wie gesagt, mit Pausen halten sich Ammer und Einheit in ihrem 52-minütigen Hörspiel, das weder ein Remix noch eine Coverversion der LP ist, nicht auf. Um das Ungesagte, besser: das Ungehörte zu evozieren, bespielen die beiden etwas Anderes: das kulturelle Gedächtnis der Hörer, dass das wirklich Gehörte ergänzt und in den Resonanzraum wieder einführt, aus dem es ursprünglich kam. Denn in den Kompositionen von FM Einheit sind die Beatles-Stücke nicht wiederzuerkennen und müssen vom inneren Ohr des Hörers dazugemischt werden. Von „Come together“, der Eröffnungsnummer des Albums, bleibt das vokallose „Shhhhhtmm“, was angeblich „Shoot me“ heißen soll. George Harrisons Liebeslied „Something“ wird zu „Irgendetwas“. Der Text wird auf Deutsch in indirekter Rede referiert und mit einem erzählerischen Kontext angereichert.
Doch Referat und Nacherzählung sind nicht die einzigen Techniken, mit denen Ammer und Einheit das Beatles-Album zu einem eigenständigen Kunstwerk verarbeiten. Bei dem Song „I want you (she’s so heavy)“, der aus nur 15 Wörtern besteht, wird ein algorithmisches Verfahren gewählt, nämlich die Anordnung der Wörter nach dem Alphabet: von A bis Z, dann rückläufig von Z bis A, danach zufällig, um schlussendlich in eine mehr oder weniger sinnhafte Rekonstruktion zu münden. Alles bewährte Methoden der experimentellen Poesie. Für „Oh Darling“ wird eine Übersetzung der Lyrics in die Kunstsprache Volapük angeboten. In „Octopussy’s Garden“ werden ein paar hilfreiche Informationen zu Cephalopoden der Art Abdopus aculeatus geliefert: „Wegen der Vielzahl der Nachkommen bauen Oktopusse keine Eltern-Kind-Beziehung auf und legen auch keine Gärten an.“
Strukturiert wird das Hörspiel durch ein Radio-Interview mit John Lennon anlässlich der Erstveröffentlichung von „Abbey Road“ (1969), in dem das Album Titel für Titel besprochen wird und in dem der Musikjournalist Tony McArthur einen „melodic turn“ feststellt. Das zweite Strukturmerkmal ist die Reflexion der Stücke durch Christiane Rösinger (unter anderem Mitglied der Bands Lassie Singers und Britta), Wolfgang Müller (Die Tödliche Doris), N.U. Unruh (Einstürzende Neubauten) und Saskia von Klitzing (Fehlfarben) sowie durch den Multiinstrumentalisten Volker Kamp und den Medientheoretiker Siegfried Zielinski. Nicht nur die Methoden der Auseinandersetzung mit den Stücken unterscheiden sich dabei, auch thematisch nähert man sich auf unterschiedliche Weise den Stücken. „Because“ wird zur Yoko-Ono-Nummer, „You never give me your money“ und „Polythene Pam“ werden musikalisch auseinandergenommen („Klänge ohne Mittelgrund“), andere Stücke werden mit Beatles-Klatsch oder persönlichen Geschichten der Beteiligten angereichert.
Das Stück „Everest“ ist nur schwer in bestehende Hörspielkategorien einzuordnen. Es enthält narrative Elemente, die aber nicht über die Länge einer Single hinausgehen dürfen, außerdem arbeitet es mit Methoden experimenteller Literatur und es bewegt sich souverän in einem gegenwärtigen musikalischen Kosmos. Dabei fordert es das eigene (nicht nur akustische) Erinnerungsvermögen heraus und ist extrem unterhaltsam. Mit „Everest“ haben Ammer und FM Einheit eine Maschine zur Aufdeckung (oder zur Erzeugung) von Kontexten konstruiert, deren Rohstoff eines der berühmtesten Alben der Pop-Geschichte ist.
Jochen Meißner – Funkkorrespondenz 38/2014
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