Dämonen und Wahnsysteme

Rückblick auf den Radiowettbewerb beim Prix Europa 2013

Wer körperlose Stimmen hört, die zu ihm sprechen, setzt sich auch heute noch dem Verdacht aus, wahnsinnig zu sein. Seit dem frühen 20. Jahrhundert – als die Filme noch stumm waren – begannen die Maschinen (von sich) selbst zu sprechen: „Ich bin der Edison-Phonograph. Beachten Sie genau, was ich Ihnen sage.“ Außerdem versprachen sie, die Stimmen längst Dahingeschiedener wieder hörbar zu machen. Das Unheimliche wohnt von Anfang an allen Speicher- und Übertragungstechniken inne.

Glaubt man den Einreichungen zum Prix Europa 2013, der vom 19. bis 26. Oktober beim Rundfunk Berlin-Brandenburg (RBB) im Berliner Haus des Rundfunks stattfand, haben das Unheimliche und der Wahn das Radio nie verlassen. 90 Jahre nachdem in Deutschland das Radio seinen Betrieb aufnahm und in seiner ersten Meldung unmissverständlich klar gemacht hatte, dass schon das Abhören konventioneller Funkübertragungen „genehmigungspflichtig“ sei, treiben geisterhafte Stimmen ihre Figuren vor sich her und Wahnsysteme aller Art fordern ihr Recht auf Weltdeutung und Weltherrschaft.

Geradezu paradigmatisch war die Synthese zwischen dem Wahn und dem Geist in der Maschine in dem nach dem Roman von Daniel Suarez entstandenen Hörspiel „Daemon“ (vgl. hierzu FK 43-44/13) zu hören, das vom WDR in der Kategorie für Serien und Mehrteiler beim Prix Europa eingereicht worden war. Die Stimme des zu einem Dämonen, genauer: zu vielen „Daemons“ gewordenen toten Programmierers Matthew Sobol ‘verkörperte’ (mit der gespenstischen Stimme von Christian Redl) den Geist in der Maschine.

Und es sind nicht nur die Deutschen, die die Vorzüge komplexitätsreduzierender Wahnsysteme zu schätzen wissen. In der vom dänischen Hörfunk eingereichten Serie „Das Kierkegaard-Syndrom“ von Andreas Garfield navigiert der Wahn als innere Stimme in Form eines sogenannten „Autopiloten“ den glücklichen Familienvater Søren (!) durch den Alltag. Jedenfalls so lange, bis sich die übliche Midlife Crisis einstellt. Was das mit dem dänischen Philosophen Søren Kierkegaard zu tun hat? Dessen Geburtstag jährte sich 2013 zum 200. Mal. Ein Schicksal, das er mit einer anderen Kunstfigur teilt: dem Komponisten Richard Wagner. Wagners Hang zum Gesamtkunstwerk, auch eine Art Wahn, wurde von Ulrich Bassenge in der anspielungsreichen zehnteiligen Seifenoper „Die Maintöchter“ um die derb-fränkische Katharina, die stumme Eva und die blasierte Nike dekonstruiert. Übrigens eine Produktion des schweizerischen Rundfunks SRF, der im Wettbewerb außerdem mit einem Stück antrat, das die ganze Schuld am Elend der Welt auf das einzelne Individuum abwälzte:

Protestantischer Masochismus, rassistischer Sadismus

Gerhard Meisters Hörspiel „In meinem Hals steckt eine Weltkugel“ ist eine knapp einstündige, extrem unterkomplexe Anklage für Freunde des protestantischen Masochismus. Das Stück wurde am 16. Juli dieses Jahres auch von WDR 1Live ausgestrahlt (in der Rubrik „Soundstories“).

Die sadistische Variante des Wahns im Radio war unter anderem Thema in einem am Rande des Prix Europa vom Institut für Auslandsbeziehungen (ifa) und der Deutschen Welle (DW) veranstalteten Expertenseminar über „Radio- und Audio-Strategien für internationale Kulturarbeit“. Der Theatermacher Milo Rau stellte darin „Hate Radio“ vor, sein Projekt, in dem das Programm der ruandischen Radiostation RTLM nachgespielt wird (vgl. FK 17/13). Der Sender war von Nichtregierungsorganisationen finanziert worden, die sich ein freies Gegengewicht zum geistlosen Verlautbarungsradio der damaligen Machthaber versprachen – doch er wurde zu einem Sender, der in seinem rassistischen Programm den Völkermord aktiv vorantrieb.

Den Prix Europa für Serien und Mehrteiler gewann dann aber Donal O’Kellys historischer Dreiteiler „Francisco“, eine Produktion des winzigen irischen Lokalradios Ocean FM. Erzählt wird die Geschichte des Francisco de Cuellar, 1588 in Irland gestrandeter Kapitän der spanischen Armada, der nicht nur in ständiger Angst vor den Engländern lebt, sondern auch von seinen eigenen Dämonen heimgesucht wird. Denn in Mexiko war er an der Drangsalierung und Ausbeutung der Bevölkerung beteiligt. Der Jury gefielen die engagierte Ensemble-Arbeit und das multilinguale Sprachgemisch aus Englisch, Spanisch und Gälisch, das auf überraschende Weise Poesie erzeugte.

Dokumentarpassionsspiel

Welche Dämonen genau Ferdinand Piëch umtreiben, den Aufsichtsratsvorsitzenden der Volkswagen AG und mithin eines der mächtigsten Automobilkonzerne der Welt, weiß man auch nach Walter Filz’ Dokumentarpassionsspiel „Pieta Piëch“, einer SWR-Produktion (vgl. FK 5-6/13), nicht so genau. Sie müssen jedenfalls so stark sein, dass der in der Öffentlichkeit sich stets sehr bedeckt haltende Ingenieur sich dazu veranlasst sah, einen Zeitungsbericht juristisch richtigstellen zu lassen, der ihm unterstellt hatte, er trage gerne Krawatten mit Jagdmotiven. Bei dem als Beweisfoto vorgelegten Bild einer Krawatte mit einem bewaffneten Mann neben einem Elefanten handele es sich nicht um ein Jagd-, sondern um ein Kriegsmotiv, so die Argumentation. Piëch bekam Recht.

Zum besten europäischen Hörspiel wurde ein Stück gewählt, dessen zerstörerischer Wahn im familiären Umfeld blieb. Krzysztof Czeczots humorvolle und intelligente Farce „Andy“, eingereicht vom polnischen Hörfunk (Polskie Radio), handelt von einem Toningenieur, der ganz einfach verrückt wird. Bei der Bearbeitung der Soundspur einer Fernsehsoap verstrickt er sich in eine Liebesgeschichte mit der weiblichen Hauptfigur, die etwas höhergepegelt werden möchte, während der Fernsehproduzent sie lieber akustisch zum Verschwinden bringen will. Die Realitätsebenen verschwimmen und bleiben akustisch dennoch erstaunlich transparent. Als Andys nervende Mutter vom Nebenzimmer aus mal wieder lautstark auf sich aufmerksam macht, löst sich ein Schuss.

Angst und Schrecken in der Musik

Auch in der erst im vorigen Jahr eingeführten Kategorie „Radio Musik“ ging es um das Unheimliche. Raphael Smarzoch begab sich in seinem für den Deutschlandfunk (DLF) produzierten Stück „Klänge des Grauens“ auf eine Expedition in die Untiefen des Horrorfilms und berichtet dabei von der Erfahrung, dass nichts mit den furchteinflößendsten Bildern, die im Kopf entstehen, konkurrieren kann, wenn man sich von der Leinwand abwendet: Dafür, dass man sich so richtig unwohl fühlt, sorgen Komponisten und Sounddesigner, die mit unangenehmen Frequenzen, dissonanten Akkorden und manchmal auch ganz harmlosen Kinderliedern Angst und Schrecken verbreiten.

Den Prix Europa in der Kategorie „Radio Musik“ gewann Tomas Fitzel mit seinem Feature „Die Kunst der Geräusche“ (RBB/DLF), in dem er sich auf die Suche nach Spuren futuristischer Geräuschmusik macht. Seine Suche führt ihn von der Rekonstruktion der anno 1913ff. noch erschreckenden Klangerzeuger, den sogenannten „Intonarumori“ des futuristischen Malers und Komponisten Luigi Russolo, über die Musik der Einstürzenden Neubauten bis hin zum Sounddesign moderner Automobile.

Den futuristischen Mut, die Medienrevolutionen des 20. Jahrhunderts nicht nur zu begleiten, sondern auch voranzutreiben, wünscht man sich auch zu Beginn des 21. Jahrhundert, an dem sich wieder eine Medienrevolution vollzieht. Warum sollte es nicht das Kulturradio sein, das hier kreativ und analytisch Maßstäbe setzt und den Dämonen mutig entgegentritt, weil es sich keinem ökonomischen Konformismus und keinen Formatierungskonventionen unterwerfen muss?

Preis für „Unsere Mütter, unsere Väter“

Im Fernsehwettbewerb des Prix Europa 2013 gab es in der Kategorie „Serien und Mehrteiler“ einen weiteren Erfolg für den schon mehrfach preisgekrönten ZDF-Dreiteiler „Unsere Mütter, unsere Väter“ (Produktion: Teamworx, heute: Ufa Fiction). Das Antikriegsdrama, das über das Schicksal von fünf Freunden während des Zweiten Weltkriegs erzählt, setzte sich gegen die großartige schwedisch-dänisch-finnische Serie „Real Humans“ durch, die anhand des Beispiels sehr menschenähnlicher Androiden das Thema rassistischer Ausgrenzung auf sehr gegenwärtige Weise behandelt. „Real Humans – Echte Menschen“ war hierzulande im April 2013 im Programm von Arte zu sehen.

Jochen Meißner – Funkkorrespondenz 46/2013

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