Christoph Buggert: Das Gemurmel im Kopf
Ein Zwischenruf
von Christoph Buggert
Dies wird kein umfassender Rückblick, keine Confessio – eher ein kurzer Dankestext. Es bedeutete eine Ehre für mich, im Juli 2018 an der Fachtagung der Bergischen Universität Wuppertal zum Thema „Kritische Audio-Edition“ teilnehmen zu dürfen. Die mir übertragene Aufgabe war ein Abendgespräch über „60 Jahre radiophone Kunst“, ausdrücklich sollte es um die persönliche Perspektive gehen. Mehr als ein halbes Jahrhundert für eine der lebendigsten und vielfarbigsten Kunstgattungen unserer Zeit tätig gewesen zu sein, als Autor sowie als Redakteur – vermutlich können das nicht allzu viele vorweisen. Der Zufall wollte zudem, dass insgesamt sechs Tagungsreferate dem Werk von Autoren galten, mit denen ich eng zusammengearbeitet habe.
„60 Jahre radiophone Kunst“, das ist viel, sogar sehr viel Stoff. Versuchen wir’s im Telegrammstil. Mein erster Kontakt mit dem Radio war negativ besetzt. Ein Trupp SA-Leute überfiel die elterliche Wohnung in Hinterpommern, weil ein Nachbar meinen Vater beschuldigt hatte, Feindsender zu hören. Sämtliche Zimmer wurden verwüstet – ohne Ergebnis: wir besaßen gar kein Radio. Seitdem jedoch galt das Medium Rundfunk in dem Pfarrhaus-Milieu, in dem ich aufgewachsen bin, als Teufelswerk. Erst anlässlich der Fußball-Weltmeisterschaft 1954 wagten meine Brüder und ich den Aufstand. Ein riesiger Telefunken-Apparat mit schwarzer Bakelit-Ummantelung wurde angeschafft. Das magische Auge und die verheißungsvollen Namen auf der Suchskala – Beromünster, Monaco, Hilversum – beeindruckten mich. Hörspiele habe ich trotzdem nicht eingeschaltet.
Das änderte sich nach dem Studienbeginn, Ende der 50er Jahre. Ich schrieb an meinem ersten, bis heute unveröffentlichten Roman, ein Freund hatte Kontakt zum Münchener Sender. Aufgrund einer Wette gab ich mir sieben Tage Zeit, eins der Kapitel zum Hörspiel umzuarbeiten. Und siehe da, der Text wurde angenommen. Das für meine Begriffe immense Honorar ermöglichte die Anschaffung eines eigenen Empfangsgeräts, ein Grundig mit Holzgehäuse. Und ab jetzt habe ich mich verpflichtet gefühlt, das aktuelle Hörspielschaffen näher kennenzulernen. Eich, Bachmann, Andersch, Hildesheimer, Böll – wie sie alle hießen.
Der Formenkatalog jener Zeit – Dialog, Szene, Handlungsbericht – rechtfertigte den Eindruck, dass es sich um eine Art „Theater im Kopf“ handelte. Eine autonome, mit eigenen Gestaltungsmitteln operierende Kunstgattung war das Hörspiel nur selten. Das Renommee allerdings, das dieses Genre genoss, wirkte verlockend. Die meisten Sender verfügten über ein Hauptprogramm sowie über eine viel weniger beachtete UKW-Welle. Wenn ein Hörspiel angesagt war, gab es für das Publikum kaum Alternativen. Das hatte zur Folge, dass sogar ein junger, völlig unbekannter Autor ein Millionen-Publikum erreichte. Sämtliche überregionalen Zeitungen veröffentlichten ausführliche Kritiken, ein gewisser Momos war darunter. Beliebte Programm-Zeitschriften wie die „Hörzu“ widmeten neuen Funkstücken eine Doppelseite, auf der die Handlung in sepiabraunen Tuschzeichnungen nacherzählt wurde. Das Fernsehen steckte noch in den Kinderschuhen, das Radio galt als Leitmedium.
Aus heutiger Sicht scheint ein anderer Aspekt mir wichtiger. Da ich das Studium zu großen Teilen selbst finanzieren musste, bewarb ich mich um eine Stelle als Aushilfsredakteur in der Münchener Hörspiel-Redaktion. Der von mir verehrte Chefdramaturg fiel krankheitsbedingt für längere Phasen aus. In seiner Vertretung hatte ich Gelegenheit, an den offiziellen Programm-Sitzungen des Senders teilzunehmen. Dort habe ich sie noch kennengelernt, die großen alten Männer des Radios. Vor der Zeit, in der in unserem Land der Abschaum an die Macht kam, hatten sie die Kulturszene beherrscht – als Zeitungsmacher, Intendanten, freie Publizisten. Wer von ihnen das Exil oder die KZ-Haft überlebt hatte, ging ganz bewusst zum Radio, kein anderes Medium erreichte ein ähnlich großes Publikum. Für das von den Alliierten angestoßene Re-Education-Konzept – deutlicher gesagt: für die Überführung einer moralisch total devastierten Nation in ein demokratisch organisiertes Staatswesen – schien der Rundfunk ideal.
Diese Leute waren keineswegs gehorsame Vollstreckungsbeamte, sondern sehr selbstbewusste, sehr kämpferische Programmmacher. Ihre Meinung, ihre Ideen, ihre persönlichen Vorstellungen von einer wiedererstarkten Demokratie zählten – nicht die Quote oder der Mainstream. Bloße Berieselung hielten sie für ein Verbrechen. Wir haben Verantwortung, sagten sie – als Erzieher, als Anreger, als Vermeider einer Neuauflage der jüngsten Vergangenheit. Wenn es seitens der Politik irgendwelche Einmischungen gab, hielt man fest zusammen. Und Anfänger, die noch ohne Erfahrung waren, konnten auf den Schutz der Älteren vor Zensurmaßnahmen bauen. Es lohnt sich nach meiner Ansicht, Kommentare und Abendstudio-Sendungen aus jener Epoche wieder auszugraben. Man würde auf mutige und eigengeprägte Tonfälle stoßen, wie sie in der heutigen Medienlandschaft selten sind.
Doch die Situation änderte sich. Der inzwischen zu Kräften gekommene „kleine Bruder“ Fernsehen wuchs dem Radio über den Kopf und stahl ihm das Publikum. Die neben der Mittelwelle etablierten UKW-Wellen wurden zum Kulturprogramm erklärt, auch das Hörspiel erhielt dort neue Sendezeiten. Bis heute bedaure ich es, dass wir Hörspiel-Redakteure die angestammten Plätze im Hauptprogramm der Sender nicht energischer verteidigt haben. Den Kollegen – leider auch mir – schien etwas anderes verlockender. Die nur in den UKW-Wellen mögliche Stereofonie eröffnete der Radiokunst eine völlig neue Formensprache. Collage und Montage – das räumliche Zusammenspiel, sogar die trennscharfe Überlagerung einer Vielzahl akustischer Informationen – die neuartigen Möglichkeiten der elektronischen Klangerzeugung und Klangveränderung – das alles war so verführerisch, dass wir die Chance, ein möglichst großes Publikum mit Kunst zu versorgen, leichtfertig unterschätzten.
Hinsichtlich der Erweiterung der Formensprache war das damals aufkommende Neue Hörspiel ohne Frage ein Glücksfall. Hinsichtlich des Publikumskontakts war es schlichtweg eine Katastrophe. Neben ernst zu nehmenden und bis heute beachtenswerten Expeditionen ins Reich der Klänge gab es eine Flut geistloser und inhaltsleerer Klimbim-Hörspiele. Man rechtfertigte diese Entwicklung damit, dass die akustische Kunst erst einmal die eigenen Werkzeuge erforschen müsse. Chorische Sprachspiele entstanden, weltberühmte Komponisten durften für das deutsche Hörspiel ihre liegengebliebenen Nebenwerke realisieren – vieles davon ist zu Recht vergessen. Nicht jeder ist eben ein Ernst Jandl oder Ror Wolf oder Paul Wühr oder Mauricio Kagel oder Heiner Goebbels. Der Medien-Alltag schluckt und verzeiht vieles, auch ich habe mich damals schuldig gemacht.
Inzwischen war ich als Hörspielchef nach Frankfurt gewechselt, und immerhin war mein Sender derjenige, der länger als alle andern seinen hauptsächlichen Hörspiel-Termin im Flaggschiff-Programm beibehielt. „Ein Hörspiel ohne den Gedanken an jene, die von ihm unberührt bleiben könnten, ist ein unmenschliches Hörspiel“ – diesen Satz habe ich anlässlich einer Preisverleihung gesagt. Er kostete mich die Freundschaft eines mir wichtigen Kollegen, erst Jahre später haben wir uns wieder versöhnt. Ich etablierte auf der hr-Mittelwelle ein „Kurzhörspiel am Nachmittag“, das weitere zwanzig Jahre seinen Sendeplatz behauptete. Aber es half nichts. Das Hörspiel war drauf und dran, eine Minderheitenkunst zu werden.
Bewusst erfanden wir – als Gegenbewegung gegen den radiophonen Elfenbeinturm – das Originaltonhörspiel. Radiokunst entstand jetzt nicht mehr im Tonstudio oder im elektronischen Klanglabor, sondern auf der Straße. Zugleich suchten nicht wenige Hörspielredaktionen engen Kontakt zur 68er-Bewegung bzw. zu den daraus hervorgegangenen Denkschulen. Mit Fug und Recht lässt sich sagen, dass dieser Emanzipations-Schub, der dem Vergessens-Muff der Nachkriegszeit ein Ende setzte, nicht zuletzt über das Hörspiel in die Rundfunkprogramme gelangte. Immer wenn ich als Redakteur vor den Kontrollgremien “singen“ musste – das heißt: wenn wieder etwas angeeckt hatte – waren diejenigen Hörspiele der Grund, die sich in den politischen Diskurs der Zeit einmischten. Klang- oder Sprachspiele dagegen schluckte man mühelos. Nicht umsonst werden die durchaus artifiziell gestalteten Originaltonarbeiten eines Paul Wühr, eines Ludwig Harig, eines Ror Wolf oder Gerhard Rühm bis heute gesendet. Das Klimbim-Hörspiel jener Zeit ist längst vergessen.
Und heute? Das gesamte öffentliche Bewusstsein wird bestimmt durch eine nicht endende Berieselung, die unsere Hirne füttert, überschwemmt, deformiert. Algorithmen steuern intimste Entscheidungen, ohne dass wir den Prozess beeinflussen oder überhaupt wahrnehmen können. Ein ständig anwachsendes Geschwätz ist in der Welt, das sich auf unkontrollierbare Weise mit persönlichen bzw. privaten Manifestationen vermischt. Das nie schweigende Gemurmel im Kopf, das teils von außen eindringt, teils eigene Erinnerungen oder Denkprozesse fortsetzt, ist für unser Bewusstsein entscheidender geworden als der konkrete Lebenskontext. Natürlich gab es das Kopfmurmeln auch in früheren Epochen – seine Fremdsteuerung jedoch hat nie gekannte Ausmaße angenommen.
Für mich sind diejenigen Autorinnen und Autoren, Regisseurinnen und Regisseure die interessantesten, die das Gemurmel im Kopf kritisch hinterfragen. Christoph Schlingensief, Andreas Ammer, Paul Plamper – das sind Hörspielmacher, die in dieser Hinsicht als Vorreiter zu nennen wären. Das Nachstellen von Leben bei der Studio-Aufnahme, das Basteln von Handlungszusammenhängen verfehlt allzu oft, wozu das Hörspiel – und wahrscheinlich nur das Hörspiel – fähig ist. Man nenne mir eine Kunstform, die beweglicher, doppelbödiger, komplexer sein kann als die akustische Kunst. Das Theater braucht die Bühne, der Maler braucht die Leinwand, der Bildhauer braucht Stein oder Holz – das Hörspiel dagegen braucht nur den stofflosen Stoff, aus dem unser Denken, Fühlen, Phantasieren, sogar unser Träumen gemacht ist. Es besteht aus nichts als Luft und ist trotzdem fähig zur strengen Form. Wenn Kunst bedeutet: Ständige Annäherung an das, was wir sind – dann bietet das radiophone Spiel das flexibelste und effektivste Werkzeug dafür. Über das Hören, so scheint es, kommen wir näher an uns ran als durch jede andere Kunstform – das Hörspiel ist buchstäblich in uns. Es verbindet die Flexibilität der Musik mit der Präzision des Gedankens.
So verständlich alle Versuche der Programmgewaltigen unserer Zeit sind, der Gattung Hörspiel wieder ein breites Publikum zu erschließen – etwa über einen dem Fernsehen abgeguckten Radio-Tatort, über die inflationäre Förderung von Bestseller-Adaptionen, über Nachahmung des Prinzips TV-Serie – man wird das Ziel nicht erreichen. Verordnete Maßnahmen lähmen eher die einzige genuine Kunstform, die das Medium Radio entwickelt hat. Kunst lässt sich nicht anhand von Mess-Ergebnissen planen, sie muss selber ihren Weg finden. Meine Bitte an die Hörspielmacher in den Sendern lautet deshalb: Lasst euch nicht entmutigen, lasst euch nicht gängeln, bleibt Freunde und Förderer der Künstler unserer Zeit, nicht der geschäftstüchtigen Absahner. Und meine Bitte an die Programmentscheider ist: Vertraut denen, die ihr als Kenner der Materie in eure Hörspielredaktionen berufen habt. Sie hören genauer als ihr Verwalter und Manager das Gemurmel im Kopf. Nur sie nehmen wahr, was auch in Zukunft hörbar bleiben muss.
Schließen möchte ich mit einer Rechnung, die alle Quotenfexe sich ins Stammbuch schreiben sollten. In derjenigen Woche, in der hochartifizielle Hörspiele wie „Fünf Mann Menschen“ von Ernst Jandl/Friederike Mayröcker oder „Leben und Tod des Kornettisten Bix Beiderbecke aus Nordamerika“ von Ror Wolf zur Ursendung kamen, gab es ohne Frage die eine oder andere Sendung, die höhere Einschaltquoten brachte. Im Lauf der Jahre jedoch erlebten die genannten Titel eine Vielzahl von Wiederholungen und Nachsendungen. Die Quote, die sich dabei aufsummierte, kann spielend mit den erfolgreichsten Radio-Ereignissen der letzten Jahrzehnte mithalten. Es kommt eben auf die Perspektive an. Wer nur bis morgen zu denken vermag, der wird im Hörspiel eine Gattung sehen, die kaum noch nennenswerte Quoten erzielt. Wer dagegen die mentale Kraft für längere Zeitbögen hat, wird zugeben müssen, dass sogar anspruchsvolle radiophone Experimente bis heute ein Millionen-Publikum erreichen. Welche andere Hörfunk-Disziplin ist dazu imstande?
Der Text basiert auf einem Vortrag anlässlich der interdisziplinären Fachtagung „Kritische Audio-Edition“, die vom 12. bis 14. Juni 2018 an der Bergischen Universität Wuppertal stattfand. Zuerst veröffentlicht in Medienkorrespondenz 7/2019 und hier mit freundlicher Genehmigung des Autors dokumentiert.
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