Bilderwelten im Dreivierteltakt

Hubert Wiedfeld: Der Sprung vom Trottoir

HR 2 Kultur, Mi 27.12.2017, 21.30 bis 22.43 Uhr / Mi 03.01.2018, 21.30 bis 22.55 Uhr

Reden wir über Bilder. Nicht über Sprachbilder, nicht über die vielen optischen Metaphern, die das Schreiben über Hörspiele so erschweren, weil man es eben nicht „in den Blick nehmen“ kann, sondern über reale Bilder. Es geht um Gemälde und um Zeichnungen, die einen Moment fixieren und wie in einem Film-Still eine Geschichte erzählen können. Ein Bild kann man in einem Augenblick erfassen, was in einem zeitbasierten Medium, das auf kontinuierliche Wahrnehmung angewiesen ist, unmöglich ist.

Schon in Hubert Wiedfelds Hörspiel „Das Ende des Schlittenbaus – Radiostück in fünf Teilen nebst einer Opéra Sinistre“ (1987) spielte ein Bild eine besondere Rolle: das Gemälde „Der bedrohte Mörder“ des belgischen Surrealisten René Magritte aus dem Jahr 1926. Die Hauptfigur des Hörspiels war ein gewisser Leo Raat, der wiederholt versucht, seine Amour fou zu töten, bis er sie schließlich auf eine Grammophonplatte bannen kann – die wahrscheinlich auf jenem Grammophon abgespielt wird, das wir auf dem erwähnten Magritte-Bild sehen können. Der Name „Leo Raat“ ist übrigens ein Anagramm von „Aleator“ – der Spieler.

In Hubert Wiedfelds letztem vollendeten Hörspiel – der Autor ist 2013 verstorben – taucht Leo Raat wieder auf. In dem zweiteiligen, insgesamt 158-minütigem Radiostück „Der Sprung vom Trottoir“ (im Manuskript trägt es die Gattungsbezeichnung „acoustic novel“) ist Leo Raat nicht mehr ein verhinderter Mörder, sondern eine gehetzte Figur auf der Flucht. Sie wird ihm nicht gelingen, denn er ist „tot – tot – tot“, wie es schon zu Beginn des Hörspiels nachdrücklich verkündet wird.

Ein roter Handlungsfaden ist im Hörspiel selbst für die Figuren nur schwer zu erkennen, aber ein ziehharmonikaartig gefaltetes Leporello von etwa zweieinhalb Metern Länge kann möglicherweise als Orientierungshilfe dienen. Die postkartengroßen Miniaturen darauf sind von dem holländischen Maler Marcel van Eeden und sie dienen als „Storyboard für Lupenleser und Fadenzähler“. Hier werden die in einem Bild stillgestellten Geschichten ansatzweise in die Abfolge einer Geschichte gebracht.

Wie es sich für ein surrealistisches Kunstwerk gehört, entdeckt sich der Betrachter Leo Raat selbst in den Bildern. Zum Beispiel in einer von van Eeden gezeichneten Szene aus einem Speisewagen der Deutschen Reichsbahn aus den 1940er Jahren mit einer Dame in Rot. Der Titel dieses Bildes aus dem 45-teiligen Zyklus „The Taking of Jerxheim Station by Gulle Lachnit“ lautet „Jumping from the Trottoir“ – aber diese Bilder müsste der reale Marcel van Eeden (Jahrgang 1965) noch malen, es sind Erfindungen von Hubert Wiedfeld, der in Jerxheim, einem Örtchen bei Braunschweig aufgewachsen ist. Und Gulle Lachnit (gespielt von Heinrich Giskes), ein kleinkrimineller „Bücherklau“, bekommt natürlich auch noch eine Rolle im Hörspiel. Orte, Zeiten und Begriffe sind in diesem Stück so überkodiert wie wohl in keinem anderen Werk Wiedfelds.

Ob in den Bildern des Leporellos oder in einer Kunsthalle ohne Bilder, ob in einem bücherlosen Bücherturm oder im Keller eines Barbiersalons – die Orte, an denen Leo Raat recherchiert oder Zuflucht sucht, haben einen ähnlichen Stillebencharakter wie die Bilder van Eedens. Es sind ohnehin eher Bilderwelten als Erzählungen, durch die man sich im Dreivierteltakt im leitmotivischen Walzer Nr. 2 von Schostakowitsch durch das Hörspiel dreht.

Erst im zweiten Teil des Stücks kommt man in den Genuss längerer narrativer Zusammenhänge. Dort wird es auch im Wortsinn „filmischer“, denn Lachnit hat wichtige Dokumente, die dystopische Pläne zur ökonomischen Sanierung des verschuldeten Staates enthüllen, in Filmrollen des Godard-Films „Alphaville“ (1965) hineinkopiert. Und auch der Schauspieler Max von Sydow tritt auf, in Form seiner Synchronstimme Jürgen Thormann, als sei die Zeit 1975 stehengeblieben, als der Film „Die drei Tage des Condors“ in die Kinos gekommen war. Doch ebenso wie die Räume überlagern sich auch die Zeiten in den surrealen Welten des Hubert Wiedfeld. Denn ein Teil der Handlung soll „in jenen Tagen vor dem 840. Hafengeburtstag“ in Hamburg spielen – und der findet erst im Jahr 2029 statt.

Alexander Schuhmacher inszeniert den Text mit Sebastian Rudolph in der Rolle des Leo Raat, in „Das Ende des Schlittenbaus“ (Regie: Norbert Schaeffer) war es Peter Fricke. Das mag zunächst irritierend sein, ist Raat nun in dem späteren Stück doch mit einer viel jüngeren Stimme besetzt. Doch nach den Prinzipien der diskontinuierlichen Montage, denen „Der Sprung vom Trottoir“ folgt, ist das nachvollziehbar. Am besten, man geht durch dieses Hörspiel wie durch eine Galerie, auch wenn man nicht vor den Bildern verweilen kann, die einem am besten gefallen.

Das Stück „Der Sprung vom Trottoir“, dessen operative Realisation sich noch bis nach Wiedfelds Tod hinzog, ist die letzte große Arbeit, die der Hörspieldramaturg Peter Liermann vom Hessischen Rundfunk (HR) betreut hat. Dieser Tage geht er in Pension. Mit Hubert Wiedfeld hat ihn über dreißig Jahre hinweg eine intensive Arbeitsbeziehung verbunden. Von der Jury der Deutschen Akademie der Darstellenden Künste wurde „Der Sprung vom Trottoir“ zum Hörspiel des Monats Dezember gewählt.

Jochen Meißner – Medienkorrespondenz 2/2018

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