Aus der Zeit gefallen
Elias Canetti/Michael Obst: Die Befristeten. Konzerthörspiel
HR 2 Kultur, Mi 18.06.2014, 21.00 bis 22.25 Uhr
Am 12. Juni starb Frank Schirrmacher, der Mitherausgeber der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“, völlig überraschend im Alter von nur 54 Jahren an einem Herzinfarkt. Der frühe Tod des einflussreichsten deutschen Feuilletonisten der vergangenen zwanzig Jahre löste allgemeine Bestürzung aus. „Gewitter im Gehirn, Blei in den Adern / Was du nicht wissen wolltest ZEIT IST FRIST“, schrieb Heiner Müller 1992 in einem autobiografischen Gedicht mit dem Titel „Herzinfarkt“.
Was es bedeuten kann, wenn man einer ganzen Gesellschaft eintrichtert, dass Zeit Frist bedeutet, konnte man in dem kürzlich bei Pro Sieben gesendeten dystopischen Science-Fiction-Thriller „In Time – Deine Zeit läuft ab“ (2011) von Andrew Niccol beobachten, in dem die Lebenszeit buchstäblich Geld ist. Ein Kaffee kostet vier Minuten, eine Busfahrt zwei Stunden und ab dem 25. Lebensjahr beginnt auf dem Unterarm aller Menschen eine Uhr rückwärts zu laufen. Ab dann hat man noch ein Jahr zu leben. Erreicht der Countdown die Null, fällt man tot um. Man kann allenfalls noch etwas mehr Zeit gewinnen, wenn man eine Arbeit hat, Zeit stiehlt oder mit ihr handelt. „Für die Unsterblichkeit einiger, müssen viele sterben“, ist die Quintessenz des Films.
Es ist schon ein merkwürdiger Resonanzraum, in den die Neuinszenierung von Elias Canettis Bühnenstück „Die Befristeten“ als 85-minütiges „Konzerthörspiel“ hineinfällt (Komposition Michael Obst, Textfassung: Ursula Ruppel, Regie: Oliver Sturm). Nach Raoul Wolfgang Schnells Inszenierung mit der Musik von Bernd Alois Zimmermann aus dem Jahr 1966 (vgl. Kritik in FK 46/66) und Fritz Göhlers für den Rundfunk der DDR 1984 (Musik: Jürgen Ecke) ist es bereits die dritte Verhörspielung von Canettis Text aus dem Jahr 1956.
Die Lebenserwartung, das heißt ihre Befristung, ist in Canettis Stück den Figuren am Namen abzulesen: Sie heißen Achtundachtzig, Fünfzig, Zweiunddreißig oder Zehn. Eigennamen gibt es nicht mehr und aus dem eigenen Geburtstag wird ein Geheimnis gemacht. Je höher die Namenszahl ist, umso angesehener und begehrter ist man. Es bildet sich eine Art Aristokratie derer mit der höchsten Lebenserwartung, die sich von den mittleren (den Vierzigern) und den niederen Menschen (den Zwanzigern) abgrenzt. Der Begriff „ancien régime“ bekommt da einen gerontokratischen Doppelsinn. Jedem ist der Zeitpunkt seines Todes bekannt, der in Canettis Stück nur „der Augenblick“ genannt wird. Bei der Geburt bekommt jeder eine versiegelte Kapsel um den Hals gehängt, die erst nach dem Tod von dem vereidigten „Kapselan“ (Heinrich Giskes) geöffnet wird, um die Einheit von Tod und Sterbedatum zu bestätigen.
Weil fünfzig sichere Jahre mehr wert seien als eine unbestimmte Anzahl unsicherer, befindet sich die Gesellschaft in einem lethargischen Stillstand. Die Welt ist überraschungsfrei, ihre Bewohner sind fatalistisch und zufrieden. Mit einem bestimmten Kapital Leben kommt man zur Welt und dieses Kapital nimmt – anders als im Science-Fiction-Film von Andrew Niccol – weder ab noch zu noch kann man es rauben, denn es ist unveräußerlich dem Namen der Person eingeschrieben. Erst als der Protagonist Fünfzig (Roman Kurtz) auftritt und in der Rolle eines Agnostikers verkündet, er glaube nicht an den vorherbestimmten „Augenblick“, und später beweist, dass die Kapseln leer sind, bricht der ganze ideologische Überbau zusammen.
Die Gesellschaft, die Canetti in seinem Gedankenexperiment „Die Befristeten“ beschreibt, ist eine noch nicht aufgeklärte bzw. eine gegenaufklärerische. Eine Gesellschaft, so berechenbar, wie es sich heutzutage die Big-Data-Konzerne und die außer jeder Kontrolle geratenen Sicherheitsdienste nur wünschen können. Diese Gesellschaft ist noch nicht den anpassungsfähigen, kapitalistischen Gesetzen des beständigen Wachstums und der Selbstoptimierung ihrer Mitglieder unterworfen und deshalb ist sie so angreifbar, dass es nur eines Agnostikers bedarf, um die Hohlheit ihrer Ideologie zu entlarven und sie zum Einsturz zu bringen. Seit den Enthüllungen von Edward Snowden wissen wir, das es so einfach nicht sein wird, sich gegen die Sicherheitsfanatiker des geheimdienstlich-industriellen Komplexes einen Raum der Freiheit neu zu erobern – Frank Schirrmachers Thema schon vor Snowden.
Nur über diesen gedanklichen Umweg kann man die Fragestellungen Canettis aus den fünfziger Jahren für die heutigen Verhältnisse produktiv machen. Selbst die zitierfreudige Musik von Michael Obst, eingespielt mit Mitgliedern der Internationalen Ensemble Modern Akademie (IEMA), wirkt merkwürdig entrückt in eine Epoche, in der man noch von einem Extrem ins andere fallen konnte: musikalisch, ideologisch, diskursiv. Dennoch sind es gerade die ausgedehnten konzertanten Passagen, die den Text in seinem historischen Kontext verlebendigen und seine Frist in unserem gegenwärtigen Resonanzraum hörbar machen, in dem die Gegenaufklärung sich neu formiert hat.
Jochen Meißner –Funkkorrespondenz 24/2014
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