Absichtsvoll spröde
Eran Schaerf: 1001 Wirklichkeit – Fortsetzung eines unabgeschlossenen Romans
Bayern 2 Fr 30.05.2014, 21.04 bis 23.00 Uhr
Es ist nicht das erste Mal, dass die ägyptisch-jüdische Schriftstellerin und Essayistin Jacqueline Kahanoff (1917 bis 1979) in einem Werk von Eran Schaerf auftaucht. Schon der Titel von Schaerfs Hörspiel „Europa von weitem“ (1999) stammte von der Autorin, die die Idee des „Levantinismus“ entwickelt hatte – „eine Form der kulturellen Verflechtung, die sie als gegensätzliche Haltung zum Konzept des Nationalstaates“ auffasst, wie es der Pressetext zu Schaerfs neuem Hörspiel „1001 Wirklichkeit – Fortsetzung eines unabgeschlossenen Romans“ verrät. Dessen Basis ist Jacqueline Kahanoffs unvollendeter Roman „Tamra“. Das Hörspiel wurde am Abend des 30. Mai in Berlin „Haus der Kulturen der Welt“ im Rahmen des dritten „Berlin Documentary Forums“ live aufgeführt und dabei parallel vom Bayerischen Rundfunk (BR) in dessen Programm Bayern 2 übertragen.
Die Szenerie der Live-Aufführung ist reduziert. Ein runder Tisch mit ein paar Mikrofonen. Etwas abseits steht ein rechteckiger Tisch, auf dem auf gefaltetem Karton gedruckte Wörter aus dem Stück in bestimmten Zeitabständen ausgetauscht werden – asynchron zu den gerade gesprochenen Wörtern. Man sieht durch das Fenster den Ü-Wagen des Deutschlandradios und blickt auf eine Uhr mit rot leuchtenden LED-Ziffern. Im Radio bekommt man von diesem Setting nichts mit außer dem etwas halligen Klang des Ausstellungsraums.
„Erzählen von Geschichten nicht bloß als Reflektion der Wirklichkeit, sondern als eine Methode, diese Wirklichkeit zu formen“ zu betrachten – das ist die Intention des alle zwei Jahre stattfindenden „Berlin Documentary Forum“, das „sich in einem interdisziplinären Kontext der Produktion und Präsentation von dokumentarischen Praktiken“ widmet. Eran Schaerf denkt seine dokumentarischen Praktiken vom Medium Radio her, und zwar nicht in erster Linie von den Möglichkeiten des akustischen Erzählens, sondern von den Formaten und Formatierungen des Distributionsapparats her. Nachrichten, Musik, Gespräche, Interviews oder Höreranrufe werden bei ihm auf ihren Kern reduziert und in einer absichtsvoll spröden, referierenden Vortragsweise präsentiert. Dabei wird Fiktionales mit Realem verschliffen, um die Formen auszustellen, in denen normalerweise Glaubwürdigkeit produziert wird. Eine der bekanntesten dieser Formen ist die Live-Radioreportage, die Orson Welles schon 1938 benutzt hat, um ein fiktives Ereignis – Invasion der Marsianer – in die reale Welt einzufügen. „Das Radio übersetzt Ereignisse in Stimmen“ und „die Authentifizierung der Ereignisse findet in der Realität des Zuhörerraums statt“, schreibt Eran Schaerf im Ausstellungskatalog zum „Berlin Documentary Forum“ und fährt fort: „Im Unterschied zum Film bietet der Radioapparat auch keine gemeinsame Rezeptionserfahrung, sondern zerlegt diese Erfahrung in eine unbekannte Anzahl von Hörräumen.“
Insofern unterliegt die Live-Aufführung eines Stücks von Eran Schaerf einer doppelten Paradoxie, fallen doch die kollektive Hörerfahrung vor Ort und die individuelle Hörerfahrung vor dem Radiogerät, die einer kollektiven Hörerfahrung lauscht, in eins. Die Hörräume vermischen sich, jedoch ohne sich ineinander aufzulösen. Schaerfs neues Stück „1001 Wirklichkeit“ ist also eine Studie über das Phänomen, dass man vergisst, wie man hört, wenn man sich darauf konzentriert, was man hört. Das ist konzeptuell plausibel gedacht, kann aber im Verlauf des 115-minütigen Hörspiels ganz schön anstrengend werden.
Was hört man nun in „1001 Wirklichkeit“? Zunächst einmal die Geschichte von Tamra, der Titelheldin aus Jacquelines Kahanoffs gleichnamigem unvollendeten Roman. Tamra bezeichnet sich selbst als „Romanflüchtige“, die durch die Orte und Zeiten streift. Angeblich präzise Ortsangaben werden mit Zeitangaben verkoppelt, die die unterschiedlichen Realitäten illustrieren, in denen sich Christen, Juden und Muslime bewegen: Gegenwärtig befinden wir uns im Jahr 2014 n.Chr., dem Jahr 5774 seit Erschaffung der Welt und dem Jahr 1435 seit der Flucht Mohammeds aus Mekka. In diesen verschiedenen Realitäten werden zwei Schauspieler belauscht, die das Audioarchiv des Bayerischen Rundfunks manipulieren wollen und sich im Gespräch einigen, das doch nicht zu tun, sondern ihren Manipulationsversuch mit in das Archiv einzuspeisen.
Außerdem wird ein Telefoninterview mit dem Regisseur Leonhard Koppelmann zu seiner Inszenierung von Elfriede Jelineks Hörspiel „Die Schutzbefohlenen“ eingespielt (vgl. FK 7/14), der auf die unvollendete Frage „Eine Prozessualität zulassen, also, offene Strukturen?“ antwortet: „Das finde ich richtig und gut, also zu sagen, wir lösen einfach dieses Momentum Kunst auf.“ Das ist zwar hart an der Selbstparodie, beschreibt aber dennoch genau den Zwiespalt, in dem sich dokumentarische Praktiken befinden, wenn sie denn ihre medialen Voraussetzungen zu Ende denken.
Jochen Meißner – Funkkorrespondenz 23/2014
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