Kleine Geschichte der Disziplinierung

Schorsch Kamerun: Jugendliche und Hunde haben keinen Zutritt

WDR 3, 15.06.2024, 19.04 bis 20.00 Uhr

Wenn man öffentliche Plätze mit hochfrequenten Tönen beschallt, kann man auf das Schild „Jugendliche und Hunde haben keinen Zutritt“ verzichten. Schorsch Kamerun dient das Schild als Titel für sein neues Hörspiel über Erziehung als Dressur und deren Konsequenzen.

Das Schild „Jugendliche und Hunde haben keinen Zutritt“, mit dem sich ein Cafe unliebsame Gäste vom Hals halten wollte, war nicht ironisch gemeint. Als Titel des neuen 53-minütigen Hörspiels von Schorsch Kamerun, dem Sänger der Punkband „Die goldenen Zitronen“, beschreibt er sarkastisch jene Zeiten und Orte, an denen bestimmte Gruppen nicht erwünscht waren. Wer als „anders“ wahrgenommen wurde, wurde entsprechend sanktioniert. Diese Zeiten haben nie aufgehört.

Den Konformitätsdruck, dem die Jugend auf dem platten Land ausgesetzt war, hat Schorsch Kamerun, 1963 als Thomas Sehl in Timmendorfer Strand an der Ostsee geboren, in seinem autobiografisch grundierten Roman „Die Jugend ist die schönste Zeit des Lebens“ beschrieben. Doch diese Geschichte ist nicht das übliche „Coming of Age“-Stück, mit dem die ARD-Hörspielabteilungen auf Jugendfang gehen, weil ihnen ihr Publikum zu alt ist. Denn die beeindruckendste Stimme ist eine alte Stimme. Wie man sich im Laufe des Stücks erschließen kann, ist es die der Mutter von Thomas Sehl.

Eine ihrer frühesten Erinnerung im Alter von drei Jahren war der Untergang des ehemaligen Luxusliners „Cap Arcona“, der mit einem Motorschaden drei Kilometer vor der Küste in der Lübecker Bucht lag. An Bord waren Menschen, die aus dem KZ Neuengamme bei Hamburg deportiert worden waren, weil der Reichsführer SS, Heinrich Himmler, nicht wollte, dass die KZ-Häftlinge von den Alliierten befreit würden. Am 3. Mai 1945 wurde die Cap Arcona und der Frachter Thielenbeck irrtümlich von britischen Bombern angegriffen und in Brand geschossen, wobei etwa 7000 Menschen ums Leben kamen. Noch Tage später wurden verkohlte Leichen an den Strand gespült.

Alles Nichtkonforme abgespalten

Schorsch Kameruns Hörspiel basiert auf seinem Theaterstück „Cap Arcona“, das am 10. Februar 2024 am Theater Lübeck Premiere hatte, und funktioniert auf mehreren Ebenen. Als O-Ton-Erzählung der Mutter, die von der ungleiche Nachkriegsgesellschaft in Timmendorfer Strand berichtet, die den Ausgebombten und Vertriebenen, die dort einquartiert wurden, nicht gerade freundlich gegenüberstand. Sie hatte keine einfache Jugend. Nicht nur wegen ihrer eigenen, depressiven Mutter, die sich nicht um die Kinder kümmern konnte, sondern auch wegen der durch die Nazidiktatur verhärteten Verhältnisse. Sie konnte „gar keine fertige Person“ werden, nicht richtig leben und nichts genießen – und das sind wohl die traurigsten Sätze des ganzen Hörspiels. Alles Nichtkonforme wurde abgespalten und Arbeit ist das ganze Leben.

Die mentalen Konditionierungen wurden über Generationen hinweg tradiert und darin besteht die zweite Ebene des Stück. Auch hier bringt Kamerun Beispiele im O-Ton, wenn Schülerinnen und Schüler der „Generation Jeans und Parka“ von den Drangsalierungen durch ihre Mitschüler erzählen, während öffentliche Räume für sie unbenutzbar gemacht werden – und sei es mit hochfrequentem Schall, den der „Jugendschreck Mosquito“ mit einem Schalldruck von 94 Dezibel auf dem Frequenzbändern von 16 und 18 Kilohertz abstrahlt. Weil das Hörvermögen mit dem Alter kontinuierlich abnimmt, können über 30-Jährige diese Frequenzen nicht mehr hören.

Nachwirkungen autoritärer Konditionierung

Auf der dritten Ebene, die man früher Spielhandlung genannt hätte, bemüht sich die Schülerin Stefanie (Luisa Böse), die sich „Feuersalamander“ nennt, um eine Aufarbeitung der Cap-Arcona-Geschichte und stößt damit auf Unverständnis. Denn es geht ihr nicht nur um die dort Getöteten, sondern auch um die an Land vor aller Augen Erschossenen und Gehenkten. Geradezu rührend bemüht sich Stefanie, Erwachsene argumentativ zu überzeugen, beruft sich auf Georg Büchner, Franz Schubert und Margaret Atwood, wenn es darum geht ihre Zukunft nicht nur passiv entgegenzunehmen, sondern aktiv gestalten zu wollen. Natürlich beißt sie da auf Granit: „Überlass das den Profis“; oder „Manch die Augen zu, dann siehst du was Dir gehört!“, sind noch die freundlicheren Zurechtweisungen der „Dauermaßregler“.

Die Rebellion verlegt Schorsch Kamerun in die neu interpretierten Songs seiner Band „Die goldenen Zitronen“, unter anderem den sarkastischen Hit „Die Menschen aus Kiel“ („Ein Schritt für die Menschheit / sind zehn für Kiel“). Und wenn auf die gegenwärtigen Tragödien angespielt wird, dann reicht ein Vers, um die Nachwirkungen autoritärer Konditionierungen zu beschreiben: „Und wenn sie doch bleiben, von Paragrafen gehalten / werden wir spartanisch ihr Hierbleiben gestalten.“

Das letzte Wort haben dann aber nicht „Die Goldenen Zitronen“, sondern Stefanie „Feuersalamander“, die zu einer penetrant schellenden Schulklingel das Schubertlied „Gute Nacht (Fremd bin ich eingezogen)“ von Wilhelm Müller singt. „Jugendliche und Hunde haben keinen Zutritt“ ist bereits das neunte Hörspiel von Schorsch Kamerun. Mit „Ein Menschenbild, das in seiner Summe Null ergibt“ hat er 2006 den Hörspielpreis der Kriegsblinden gewonnen. Mit seinem extratheatralen Hörspiel über das Ende der Vielfalt „Kreiskolbenmotorhase“ rotierte er 2017 durch kommunikative Räume, die immer mehr von Algorithmen bestimmt werden (Kritik hier). Da ist sein aktuelles Stück deutlich barrierefreier geworden.

Jochen Meißner – KNA Mediendienst, 20.06.2024

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