Die Muttersprache der Tauben

Helmut Oehring: Mit anderen Augen

SWR 2, Do 03.12.2015, 22.03 bis 23.00 Uhr

Schon nach den ersten Lautäußerungen der gehörlosen Solistin Christina Schönfeld und den ersten elektronisch zerhackten Sätzen, die sich über chorischen Flächen erheben, merkt man, dass Helmut Oehrings Hörstück „Mit anderen Augen“ keines für das Küchenradio oder den 128-kBit-Stream ist, sondern eines das mit der Simultaneität der Schallereignisse im Stereopanorama spielt und einen entsprechenden Klangraum braucht. Die verschiedenen Bestandteile der 57-minütigen Komposition – Sprache, Text, Laut, Musik, Klang, Atmosphäre, Ereignis und akustischer Effekt – stehen in der transparenten Mischung von Torsten Ottersberg vom Studio Gogh surround gleichrangig nebeneinander und das ist keine Selbstverständlichkeit in der auf erzählerische Textverständlichkeit fokussierten Hörspielszene.

Dass Helmut Oehring überhaupt vom Komponisten zum Hörspielmacher werden konnte, war ihm nicht in die Wiege gelegt. In seiner 2011 erschienen Autobiografie „Mit anderen Augen – Vom Kind gehörloser Eltern zum Komponisten“ schrieb Oehring, warum: „In unserm Zuhause spielte Musik nicht eine kleine Rolle. Sie spielte überhaupt keine Rolle. Nicht der Gebärde wert.“ Oehrings Muttersprache ist stumm, es ist die Sprache der Tauben, die Gebärdensprache, für die es bis heute kein allgemeingütiges Aufschreibesystem gibt.

Kurze Abschweifung: Eine Grenzüberschreitung vom Hörspiel zums Gebärdenspiel gab es schon einmal. Wolfgang Müller hat sein sprachexperimentelles Stück „Séance Vocibus avium“ (Karl-Sczuka-Preis 2009), in dem die Laute ausgestorbener Vogelarten anhand ornithologischer Beschreibungen rekonstruiert werden, mit Simone Lönne 2012 unter dem Titel „Séance 2″ als stumme Gebärden-Performance inszeniert. Ende der Abschweifung.

Geboren wurde Helmut Oehring 1961 in Ost-Berlin, in dem Jahr, in dem niemand die Absicht hatte, eine Mauer zu errichten. Sein gehörloser Bruder versucht mehrfach, diese Mauer zu überwinden, und wird angeschossen. Der kleine Helmut beginnt, obwohl er nicht gehörlos ist, erst mit vier Jahren, sich der Sprechsprache zu bedienen. Als Kind ist er der Außenseiter, der von den Mitschülern gedemütigt wird. In der DDR verweigerte er den Wehrdienst, machte eine Lehre als Baufacharbeiter und schlug sich mit verschiedenen Jobs durch. Nach 1990 wandte er sich der Musik zu und wurde Meisterschüler bei Georg Katzer. Heute ist Oehring einer der wichtigsten Protagonisten der Neuen Musik.

Die Radioversion seiner Autobiografie ist keine hörbuchartige Nacherzählung, sondern ein assoziativer Gang durch sein umfangreiches und mehrfach ausgezeichnetes kompositorisches Werk, das um Statements eines Gebärdendolmetschers ergänzt wird. Als literarische und musikalische Motive durchziehen Spalten und Risse Oehrings Hörstück. Laut Produktionsmanuskript werden unter anderem seine Kompositionen „IRRENOFFENSIVE“, „Verlorenwasser (aus: Der Ort/Musikalisches Opfer)“, „LOSHEIT/Unbehaust“ und „BEETHOVEN OHNE MUSIK“ in der Ouver­türe angespielt. Es geht um Wahrnehmungswelten, die auf den ersten Blick (hier stimmt die Metapher endlich einmal) weder radiophon noch musikalisch sind. Denn für Helmut Oehring war als Sohn gehörloser Eltern am Anfang die Gebärde und nicht das Wort. „Ich höre mit den Augen. Mit anderen Augen.“

Was das eigentlich heißt, beschreibt Oehring anhand des Luftangriffs auf Dresden in der Nacht vom 13. auf den 14. Februar 1945, der „in einem taubstummen Zimmer“, das immer weißer wird, dem Vater die Luft nimmt: „Er hört ja nichts. Schrecklich und schön zugleich. Dafür muss er alles sehen. Mehr als die anderen […] Er kann durch seine Augen alles hören. Er sieht den Klang. […] Dann fällt mit einem Mal die doppelte Menge als zuvor auf seine Augen.“

Es sind derart traumatische Erfahrungen, die auch Helmut Oehring durchlebt hat. Am Tag vor seinem achten Geburtstag wäre er beinahe ertrunken, als er sich mit dem Fuß im Uferschilf eines Sees verfangen hatte. Schreien hätte nichts genützt, denn der Vater saß Zeitung lesend mit dem Rücken zu ihm in einem Ruderboot. Im letzten Moment dreht er sich um und rettet seinen Sohn. Für Kinder gehörloser Eltern gibt es einen englischen Begriff: CODA – Children Of Deaf Adults, ein Akronym, das zugleich ein musikalischer Fachbegriff ist (eine Coda bezeichnet den durchkomponierten Ausklang eines Musikstücks).

Die Übersetzungsleistungen, die Helmut Oehring als Sprechender für seine Eltern übernehmen musste, beeinflussen sein Werk. „Ich übersetze Gebärdensprache in Musik. Und übersetze gesprochene Sprache in Gebärdensprache und schreibe diese Wortbilder auf, in einer Schriftsprache, die aus der Lautsprache kommt“, heißt es im Stück. Er sei Übersetzer von einem Sprachufer zum anderen geblieben, sagt Oehring, „ein Brückenmensch“. Und doch tritt er hier selbst mit eigener Stimme auf – als Übersetzer seiner in Gebärden gedachten Lyrik. Die klingt kantig, Sachverhalte dokumentierend, fast verblos. Die Adjektive kommen häufig in substantivierter Form vor wie das „HelleDunkelGrauGrün“ an jenem schlammigen „NichtOrt“ der absoluten Stille seiner Nahtoderfahrung. Nach der Abmoderation folgt noch eine fünfminütige Coda und wie in der Ouvertüre werden die Worte des Schlussgedichts „Untröstlicher Engel aus Eisen“ elektronisch zerhackt. Aus dem „Untrost“ heraus hilft nur die kompositorische Überformung, die Musik. Den Karl-Sczuka-Preis für Hörspiel als Radiokunst wird Helmut Oehring für sein Hörstück „Mit anderen Augen“ nicht bekommen, denn dort sitzt er selbst in der Jury. Aber den Hörspielpreis der Kriegsblinden, der sich im Untertitel „Preis für Radiokunst“ nennt, hätte er mehr als verdient.

Jochen Meißner – Medienkorrespondenz 26/2015

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