Zwei Preise, ein Vergehen und zehn Premieren – Die 20. ARD-Hörspieltage
Kein Wettbewerb mehr, dafür zehn Premieren: Im zwanzigsten Jahr versuchen sich die ARD-Hörspieltage neu zu erfinden – und vergehen sich zum hundertsten Jubiläum am ersten deutschen Hörspiel.
Auch wenn im November die Nächte länger werden, die „Nacht des Hörspiels“ war nach 117 Minuten schon wieder vorbei. Sie bildete den vorläufigen Abschluss der 20. ARD-Hörspieltage und wurde von 20.03 Uhr bis 22.00 Uhr von den meisten ARD-Kulturwellen live übertragen (und ist in der ARD Audiothek nachzuhören).
Schlusspunkt der Veranstaltung im Karlsruher Zentrum für Kunst und Medien (ZKM) war eine sogenannte „Jubiläumsinszenierung“ des ersten deutschen Hörspiels „Zauberei auf dem Sender“ von Hans Flesch aus dem Jahr 1924. Wie damals wurde die Belegschaft des Senders zur Mitwirkung verpflichtet. Den Leiter spielte also der aktuelle Leiter der Abteilung künstlerisches Wort des Südwestrundfunks (SWR), Walter Filz, den geschäftlichen Direktor spielte Jan Büttner, Verwaltungsdirektor des SWR usw. usf. Lediglich Geiger und Zauberer wurden von Profis verkörpert, von Harald Paul und dem mittlerweile 83-jährigen Schauspieler Wolfgang Condrus, dessen Radiostimme immer noch überzeugte.
So richtig Spaß schien man auf der Bühne nicht zu haben, und auch der Witz unterbot noch die bemühte Komik einer früheren Inszenierung des Hessischen Rundfunks von 1962. Man hatte das Gefühl, als sollte der versammelten Hörspielgemeinde demonstriert werden, wie trivial und quatschig das von ihnen verehrte Stück eigentlich im Kern sei. Inszeniert und geprobt hatte das Stück zwei Tage vorher Hörspielregisseur Ulrich Lampen, der diese Arbeit wohl besser nicht in sein Werkverzeichnis aufnehmen sollte.
Nur noch zwei Hörspielpreise
In den vergangen achtzehn Jahren wurde in der „Nacht des Hörspiels“ der von einer unabhängigen Jury vergebene Deutscher Hörspielpreis der ARD verliehen, und in den vergangenen acht Jahren zusätzlich die beste schauspielerische Leistung gewürdigt (Wikipedia). Doch die beiden Preise hat die ARD aus wenig plausiblen Gründen abgeschafft. Der ebenso im ZKM verliehen Deutsche Kinderhörspielpreis fiel weg, weil der neue Geschäftsführer der Film- und Medienstiftung NRW die komplette Hörspielförderung dieses Jahr eingestellt hat – auch was den Hörspielpreis der Kriegsblinden betrifft.
Es blieben zwei Preise übrig: der mit 2000 Euro dotierte Kinderhörspielpreis der Stadt Karlsruhe, der von einer Kinderjury vergeben wird. Dieses Jahr waren es zwei vierte Klassen der Gutenbergschule, die das Stück „Überleben – die Kinderoper Brundibár in Theresienstadt“ von Lisa Sommerfeldt in der Regie von Felicitas Ott auszeichneten.
Der von den Öffentlich-Rechtlichen und dem ZKM ausgelobte, mit 1000 Euro dotierte Preis für ein maximal 15-minütiges Hörspiel der freien Szene „max15“ ging an das Stück „Das normale Haus“ von Lars Werner. Das Stück spielt „in einem akrobatischen Umgang mit Erzähltechniken“, so die Jury, in einer St. Petersburger Trollfabrik, in der an der größten Show aller Zeit gearbeitet wird: „Das Ende des Westens“.
Dass man mit der Abschaffung des Hörspielpreises der ARD einen Leuchtturm geschliffen hat, der sein Licht auf die Gattung warf, ist nicht nur für die Autoren schlecht, sondern auch für das Publikum, das früher in Karlsruhe die Diskussionen der fünfköpfigen Jury über die zur Wahl stehenden Stücke verfolgen und so im besten Fall analytische Erkenntnisse mitnehmen konnte.
Statt fünf Juroren gab es dieses Jahr nur einen Moderator, den Literaturvermittler Thomas Böhm, der sehr zugewandt die Macherinnen und Macher der Hörspiele interviewte. Und statt bekannter Stücke gab es zehn Premieren von Originalhörspielen, Literaturbearbeitungen und Serien, von denen einige schon kurz nach dem Festival online gingen und/oder gesendet werden. Das machte die Sache spannend, weil man einen Blick in die nahe Zukunft des Hörspiels werfen konnte, deren Rahmenbedingungen sich gerade ändern. Vom österreichische Rundfunk (ORF) und Radio Bremen (RB) waren keine Stücke vertreten.
Literaturbearbeitungen
Im Bereich Literaturbearbeitungen gab es die „Verhörspielung“ von Leonardo Paduras Roman „Der Mann, der Hunde liebte“, die der Südwestrundfunk (SWR) als Dreiteiler in Auftrag gegeben hat, zu hören. Wie so oft fragte man sich hier, warum dieser Bestseller über den Mörder Leo Trotzkis unbedingt ein Hörspiel werden musste.
Ebenfalls ein Bestseller ist der mit dem Booker-Preis ausgezeichnete interpunktionslose und in Kleinschreibung verfasste Roman „Mädchen, Frau etc.“ von Bernardine Evaristo, der als Zwölfteiler von Jackie Thomae für den Hessischen Rundfunk (HR) bearbeitet wurde und von Laura Laabs mit einem der Vorlage entsprechenden diversen Ensemble inszeniert wurde. Von der experimentellen literarischen Form ohne Zuordnung von Sprecherpositionen bleibt im Hörspiel natürlich wenig übrig, weil allein die Stimmen die Orientierung bieten. Auch hier stellt sich prinzipiell die Frage, warum der Roman zum Hörspiel werden musste. Allerdings liegen hier Vorlage und Hörfassung weit genug auseinander um beide als eigenständig und nicht nur als Ableitung zu begreifen.
Ebenfalls zwölf Teile hat die Bearbeitung des Cyberpunkromans „Neongrau“ von Aiki Mira, die gegenwärtig Martin Zylka für den Westdeutschen Rundfunk (WDR) inszeniert. Der Roman spielt in der Gamingszene des Jahr 2112 und in den ersten bereits fertigen Folgen fliegen einem die Neologismen nur so um die Ohren. – Allerdings ohne, dass sich ein gesteigertes Interesse an deren Entschlüsselung ergeben würde. Zu dicht sind die Handlungsstränge miteinander verknüpft, so dass man nur hoffen kann, in den nächsten Folgen einigermaßen durchzusteigen.
Klassiker als sichere Bank
Auch Bearbeitungen von Klassikern sind eine sichere Bank im Hörspiel – wenn man denn die Rechte bekommt. Nach „Jenseits von Eden“ hat der Norddeutsche Rundfunk jetzt auch „Früchte des Zorn“ von John Steinbeck als Sechsteiler produziert. Die Hörspielform wird hier dadurch legitimiert, dass die Regie von Christiane Ohaus zusammen mit dem musikalischen Soundtrack des amerikanischen Duos Stephanie Nilles und Thomas Deakin einen eigentümlichen Sog entwickelt, der den Roman fast als Hörspielskript erscheinen lässt. Selten hat ein Hörspiel so staubig geklungen, wie die Verdrängungsgeschichte des amerikanischen Agrarkapitalismus.
Eine ganz eigene Art der Literaturbearbeitung lieferte das Liquid Penguin Ensemble (Katharina Bihler und Stefan Scheib) für den Saarländischen Rundfunk (SR) ab. Mit ihrem Stück „Vokabelmeer“ unternahmen sie eine „Lustfahrt, Wellenritt und Tauchgang durch das Allgemeine Deutsche Glossarium kompiliert zu Basel um die Mitte des 18. Jahrhunderts in 25 arbeitsamen Jahren von Johann Jakob Spreng“. Nach „Ickelsamers Alphabet“ eine zweite sozusagen lexikographische Arbeit des Ensembles, die auf höchst vergnügliche Weise Lemmata von A wie „Avontüre“ und Z wie „Zymprecht“ nachspürt und auch die eigene Wortschöpfungen Sprengs wie „Hirngedärm“ nicht außen vorlässt.
Einer noch altertümlicheren Sprache hat sich Ruth Johanna Benrath in ihrem Stück „Zugluft im Weltgefüge“ angenommen. In ihrem vom Stefan Kanis für den Mitteldeutschen Rundfunk (MDR) inszenierten Stück setzt sie ihre Arbeit an dialogischen Hörspielen fort und hat sich diesmal den Mystiker Jakob Böhme (1575 – 1624) als Gesprächspartner ausgesucht. Zusammen mit dem Soundtrack von Janko Hanushevsky driftet dabei die Aufmerksamkeit des Öftern gewollt ab und die Sprache wird zum Sound.
Originalhörspiele
Die Sprache der Moderne konnte man in Gesche Pienings für Deutschlandfunk Kultur von ihr selbst inszeniertem Stück „Die Könige spielen die anderen“ hören. Auch hier lädt der Sound oft zum Weghören ein, allerdings nicht wegen seiner Komplexität, sondern wegen des glatten Gegenteils. So unterkomplex und vorhersehbar die Stanzen sind, derer man sich zur Selbstvermarktung und Selbstoptimierung im Büroalltag bedient, so schmerzhaft ist bisweilen der Wiedererkennungswert. Der einzige Trost ist, dass sich dabei nicht einmal die Führungskräfte amüsieren können. Das Soundsignet von ploppenden Weinkorken wird im Laufe des Stückes immer seltener – bis am Schluss lediglich eine Bierdose aufgerissen wird.
Demonstrierte Gesche Piening, wo in modernen Arbeitswelten der Hund begraben liegt, so konnte man im Hörspiel „Den Hund begraben“ wortwörtlich den Schwierigkeiten dieses letzten Aktes beiwohnen. Auch hier inszenierte die Autorin Dunja Arnaszus ihr Stück im Auftrag des Rundfunk Berlin Brandenburg (RBB) selbst und entwickelte die Komik im Stil einer Oddball-Comedy, in der die depressive Protagonistin die Asche ihres Hundes gleich mehrfach ein- und wieder ausgräbt. Nebenbei wird beinahe noch ein Gemeinderat auf dem Friedhof erschlagen und eine Katze kremiert. Das Konzept hätte locker eine Serie werden können.
Eine Figur am Rande des Nervenzusammenbruchs ist auch der Autor in Hermann Bohlens Hörspiel „Moetteli“, der sich mit zwei Töchtern, einem ständig leeren Konto und einer KI namens Moetteli herumärgern muss. Bohlen spielt in der Inszenierung seiner Frau Judith Lorentz sich selbst und auch seine Töchter sind mit von der Partie. Die Produktion wurde vom Schweizer SRF mit der Auflage beauftragt, dass Hermann Bohlen wie im Vorgängerhörspiel „Furzknochen“ die Hauptrolle selbst übernimmt. Der Text stammt allerdings zu mehr als 80 Prozent von einer KI, mit der Bohlen experimentiert hat. Diese schreibt dann als „Moetteli“ all die Texte, zu denen der permanent fluchende Autor nicht in der Lage ist – unter anderem eine neues Krimi-Hörspiel. Ein paar Fehler von synthetischen Sprachmodellen, über die sich Bohlen lustig macht, sind seit der Produktion des Hörspiels vor ein paar Monaten inzwischen abgestellt, aber einen gibt es immer noch: Die Systeme sind nicht zum Schweigen zu bringen – der Autor hat nie das letzte Wort, so sehr er es auch einfordert.
Künstliche Sprachmodelle sind nicht nur Thema sondern auch Akteure in Hans Christoph Böhringers Serie „Mein Leben als Spam“. Sein von Pauline Seiberich für den Bayerischen Rundfunk (BR) inszenierte acht-teilige Near-Future-Serie basiert auf einem umgekehrten Turing-Test, in dem sich Menschen als solche authentifizieren müssen. Denn wenn sie als Bots identifiziert werden, kommen sie plötzlich nicht mehr an ihren Arbeitsplatz oder in ihre Wohnung. Das ist mit vielen Versatzstücken aus gegenwärtigen Achtsamkeits-, Diversitäts- und Wokeness-Diskursen angereichert, die aber hier auf der Seite der Maschinen angesiedelt sind. Das sorgt einerseits für verblüffende Komik, aber auch für anthropologische Verunsicherung. Als Journalist für den Tagesschau-Podcast „11KM“ und Autor der Gamestop-Geschichte „Memes und Millionen“ weiß Böhringer, wovon er spricht, und das hört man auch dem Hörspiel an.
Punkte und Pitches
Den Ausblick auf die künftige Entwicklung des Hörspiels, den die Hörspieltage gegeben haben, lässt sich also so zusammenfassen: Sichere Formate wie Literaturbearbeitungen von Bestsellern oder Klassiker wird es weiter geben. Anspruchsvolle Originalhörspiele sind weiterhin möglich, wenn sie die Redaktionen denn wollen, und Serien sind das bevorzugte Format, wenn man neue, junge Hörerschichten erschließen will. (Oder der eigenen Marktforschung gefallen.)
Mit diesen neuen Regelungen wird das überkommene System, das auf Sendegebieten, Wiederholungen, Übernahmen und einem „Online-Zuschlag“ von lächerlichen 4,5 Prozent beruhte, abgelöst. Bisher war es so, dass die Autoren bei kleineren Sendern mit ihren geringeren Hörspieletats nicht nur geringere Honorare bekamen, sondern auch bei Übernahmen und Wiederholungen Abschläge hinnehmen mussten – in Zeiten der allgemeinen Verfügbarkeit über das Internet ein Anachronismus. Jetzt wird die Nutzung nach einem Punktesystem vergütet, das ARD-weit für gleiche Honorarsätze sorgt und so kleinere Anstalten über Koproduktionen quasi einen Länderfinanzausgleich bekommen.
Eine ARD-Sendeanstalt erwirbt also beispielsweise für ein Einzelhörspiel 600 Punkte (beim Deutschlandradio sind es 400 Punkte), die durch Ausstrahlung, Onlinestellung für ein Jahr oder Wiederholungen und Übernahmen verbraucht werden. Sind die Punkte verbraucht, müssen neue Punkte erworben, also die Autoren nachhonoriert werden. Dieses System ist bei Einzelstücken nach Längen ausdifferenziert, für Mehrteiler und Serien gelten jeweils eigene Sätze, was ein Nutzungspunkt wert ist. Serien mit einer Folgenlänge bis 25 Minuten – und das ist die Mehrzahl – sind von diesen gemeinsamen Vergütungsregeln aber noch nicht erfasst, müssen also von den Autoren individuell verhandelt werden. Man kann sich denken, wer hier in der besseren Verhandlungsposition ist. Die neuen Vergütungsregelungen gelten nur für Neuproduktionen. Für alle bisherigen Produktionen gelten die alten Regeln.
Für Serienproduktionen gibt es eine Arbeitsgruppe der virtuellen ARD-Gemeinschaftsredaktion, in der sich alle Hörspielabteilungen wöchentlich zusammenschalten. Sie veranstaltet mehrmals im Jahr Pitches, bei denen die Autoren ihre Projekte recht detailliert präsentieren müssen – unbezahlt natürlich. In der gegenwärtigen Runde ist von 13 Projekten eines zur Produktion angenommen worden.
Jochen Meißner – KNA Mediendienst, 14.11.2024
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