Ziemlich schön hochgestapelt
Walter Serner: Letzte Lockerung – Das praktische Handbrevier
Bayern 2, Fr 02.11.2012, 21.03 bis 22.00 Uhr
Mit einem gut halbstündigen Ausschnitt aus Walter Serners dadaistischen Manifest „Letzte Lockerung“, laut Untertitel ein „Handbrevier für Hochstapler und solche, die es werden wollen“, wurden am 7. November die ARD-Hörspieltage in Karlsruhe eröffnet. Georg Zeitblom (Elektronik), Achim Färber (synthetisches Schlagzeug) und Tocotronic-Sänger Dirk von Lowtzow (Sprache und Gesang) performten den Text in einer Art Dub-Reggae-Version – dandyhaft und entspannt. Bei der Textgrundlage handelt es sich denn auch nicht um „Das prinzipielle Handbrevier“, das bei seiner Erstaufführung am 9. April 1919 in Zürich tumultuöse Wirkungen zeitigte und das von Tristan Tzara „so erfolgreich plagiiert [worden war], dass dieser mit seinem französischen ‘Manifest Dada 1918’ bis heute als Begründer und Theoretiker des Dada gilt“, wie Serner-Herausgeber Thomas Milch sagt.
Georg Zeitblom hat für seine Bearbeitung die Fassung der „Letzten Lockerung“ von 1927 benutzt, die das „prinzipielle“ um das „praktische“ Handbrevier erweitert. Letzteres besteht aus 14 Abschnitten, die insgesamt 591 durchnummerierte Handlungsanweisungen enthalten und unter anderem die Themen „Menschenkenntnis“, „Frauen“, „Männer“, „Reisen und Hotels“, „Kleidung und Manieren“, „Geld und Briefe“, „Trucs“, „Sonderlich Wichtiges“ und nicht zuletzt „Warnungen“ und „Weisungen“ behandeln. In der knapp einstündigen Hörspielfassung kann man ein gutes Drittel davon hören.
Es beginnt mit Serners Leseanweisung, vor Beginn der Lektüre ein Souper in Auftrag zu geben, das in zwei Stunden parat zu halten sei, bestehend aus Eiern à la Florentine, Crêpes, Langusten, Ananas au kirsch und Petits Fours. Während der Lektüre darf „nicht getrunken, nur geraucht“ werden. Dann folgen die acht Mottos, deren letztes – „Nicht immer ist Neues wichtiger. Oft Alterprobtes sogar neu“ – als programmatisch für diese Inszenierung gelten kann. Zwischen den einzelnen Abschnitten singt Dirk von Lowtzow einige Lieder von Walter Serner, deren „Reim- und Jambenform“, so Serner, „lediglich mnemotechnischen und suggesto-thearpeutischen Absichten“ dient. Zeitblom bezeichnet seine Inszenierung als „minimalistische Elektrosymphonie“ mit „bis ins Detail fragmentierten Tracks, die aufgeladen mit Disharmonien, abgebrochenen Rhythmen, melancholischen Melodielinien und verfilterten Soundschleifen“ operieren. Das ist – dem Thema angepasst – ziemlich schön hochgestapelt.
Wie bei einem praktischen Handbrevier nicht anders zu erwarten ist, neigen Serners Anweisungen zum Instrumentellen. Welt und Menschen werden ausschließlich auf ihre Benutzbarkeit hin überprüft. Man mag diese Tugend eines Hochstaplers machiavellistisch oder nihilistisch und in Teilbereichen auch misogyn nennen. Der umgekehrte Moralist Serner wurde 1942 von den Nazis ermordet; seine Bücher sind schon 1933 verbrannt worden. Sein Text „Letzte Lockerung“ ist analytisch-kühl, manchmal aggressiv und oft in der Betrachtung von alltäglichen Verhaltensweisen von zugespitzter Komik. Wie beispielsweise Anweisung Nr. 133: „Schlafe nicht mit dem Stubenmädchen. Tagsdrauf weiß es das ganze Hotel und du wirst behandelt, als hättest du mit dem Messer gegessen.“
Zeitbloms Vertonung der „Letzten Lockerung“ ist erst das dritte Hörspiel nach Texten von Walter Serner. Warum eigentlich? Schließlich ist die Hochstapelei auf den Finanzmärkten als Strukturprinzip wirksam und es wäre sehr verwunderlich, wenn deren Mechanismen sich nicht in die Identitätskonstrukte ihre Akteure einschrieben. Denen gebricht es aber vor allem an einem: einer gewissen an Serner geschulten Eleganz. Denn, so lautet die 591. Maxime der „Letzten Lockerung“: „Die Welt will betrogen sein, gewiß. SIE WIRD ABER SOGAR ERNSTLICH BÖSE, WENN DU ES NICHT TUST“ (Hervorhebung durch Walter Serner).
Heinz von Cramer inszenierte 1987 „Ball verkehrt oder Großer Schwof in Serners Tanzpalais“ als „Hörspiel für die reife Jugend in diversen Modetänzen“ und Klaus Buhlert nahm sich 1999 des dadaistischen Kriminalromans „Die Tigerin“ an (vgl. FK 41/99). Dabei lohnt es sich, so BR-Dramaturg Herbert Kapfer auf den ARD-Hörspieltagen, „diese frühen Texte der Moderne ohne neodadaistische Kasperliaden wieder neu zu besichtigen und als Material zu verwenden.“ Zum Beispiel so, wie hier geschehen.
Jochen Meißner – Funkkorrespondenz 46/2012
Schreibe einen Kommentar