Woran man einen Deutschen erkennen kann
Noam Brusilovsky: Faust (hab’ ich nie gelesen). Ein autofiktionales Hörspiel.
SWR 2, 27.11.22, 18.20 bis 19.35 Uhr; DLF, 17.12.22, 20.05 bis 21.20 Uhr.
Wenn die Diversity-Beauftragte ausflippt, weil der einzige Ausländer, der als Regisseur beschäftigt wird, die deutsche Staatsangehörigkeit erwerben will, dann sind wir in der autofiktionalen Welt des vielfach ausgezeichneten Hörspielmachers Noam Brusilovsky. Er hat sich auf die Suche nach dem gemacht, was den Deutschen im Innersten zusammenhält.
Sein Debüthörspiel inszenierte Noam Brusilovsky, der 1989 als Sohn argentinischer Juden in Israel geboren wurde, 2016 an der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“ in Berlin, wo er Regie studierte. Titel: „Woran man einen Juden erkennen kann“. Was mit der grotesken Suche nach dem jüdischen Körper begann, findet nun quasi eine Fortsetzung mit der Suche nach dem deutschen Geist – und der scheint dem deutschen Normalbürger genauso unidentifizierbar zu sein wie eine jüdische Physiognomie.
Das legen jedenfalls die Straßenumfragen nahe, in denen Brusilovsky Passanten danach fragt, ob sie den „Faust“ gelesen hätten und kurz sagen könnten, worum es da gehe. Doch in seinem 75-minütigen autofiktionalen Hörspiel „Faust (hab‘ ich nie gelesen)“, einer Koproduktion von Südwestrundfunk (SWR) mit dem Deutschlandfunk (DLF), geht es um weit mehr als die lustige Geschichte, wie sich der Autor Noam Brusilovsky um die deutsche Staatsbürgerschaft bemüht, nachdem er sich mit rudimentären Deutschkenntnissen durch ein Goethe-Seminar gemogelt hat, ohne je das deutscheste aller Dramen gelesen zu haben.
In einer hybriden Form, die Feature-Elemente einschließt, hören wir in Brusilovskys Hörspiel beispielsweise von dem österreichischen Künstler Julius Deutschbauer, der eine „Bibliothek der ungelesenen Bücher“ angelegt hat. Oder wir hören die israelische Übersetzerin Nitsa Ben-Ari, die sechzig Jahre nach der ersten „Faust“-Übersetzung ins Hebräische 1943(!) eine preisgekrönte Neuübersetzung veröffentlicht hat und die sich dem Rhythmus des berühmten Eingangsmonologs („Habe nun ach …“) anschmiegt.
Rahmenhandlung des Stückes ist jedoch die Hörspielinszenierung des „Faust“, den die autofiktionale Figur des Noam Brusilovkys machen soll, nachdem der ursprünglich vorgesehene Starregisseur mit 80 Jahren verstorben ist. Denn nur, wenn er die Aufgabe mit der Traumbesetzung Hans Oberländer (Walter Kreye) und Hildegard Morgenstern (Bibiana Beglau) übernimmt, schreibt ihm die zuständige Redakteurin (Anika Mauer) das „Gute-Ausländer-Attest“, das er für die Einbürgerungsbehörde braucht. Aufnahmebeginn: in einer Woche.
Dass man ohne Kenntnis des Textes schwerlich in sieben Tagen ein Regiekonzept entwickeln kann, ist die Basis für die Komik in den improvisierten Szenen mit den Schauspielern. Für die Figur des Brusilovsky wird nach Intervention der Redakteurin übrigens auch ein „richtiger Schauspieler“ (Itay Tiran) engagiert, sodass Autor und Figur zwei-stimmig in dem Hörspiel auftreten. Dass auch gleichzeitig der autofiktionale Charakter des Stückes selbst thematisiert wird, macht die Konstruktion komplexer, als man unter der leicht und flott inszenierten Oberfläche vermuten könnte.
Außerdem erfährt man von Brusilovskys ehemaligem Dramaturgie-Dozenten Holger Teschke an der „Ernst Busch“ einiges zur Rezeptionsgeschichte des „Faust“ in Ost und West – natürlich unter Einbeziehung der hoch-ambivalenten Figur des „Mephisto“ Gustaf Gründgens. Und von der Geschichte der ersten Hörspielinszenierung des „Faust“ durch den später glühenden Nazi Hans Bodenstedt aus dem Jahr 1924 bei der Nordischen Rundfunk AG hört man auch noch.
Den „Faust“ habe er immer noch nicht gelesen, schreibt Noam Brusilovsky auf Facebook nach der Ursendung am 27. November auf SWR 2. Deutscher Staatsbürger ist er trotzdem geworden – im Hörspiel wie im realen Leben. Und selbst Hörer, die ihren „Faust“ gelesen haben – auch wenn er laut einer Entscheidung des bayerischen Bildungsministeriums ab dem Schuljahr 2024/25 dort nicht mehr verpflichtende Schullektüre ist -, werden mit amüsantem und lehrreichem Stoff versorgt. Weniger sollte man von einem Klassiker ja auch nicht erwarten.
Jochen Meißner – KNA Mediendienst, 08.12.2022
Schreibe einen Kommentar