Wörter für die Toten

Julia Gonchar und Anastasiia Kosodii: Über Grenzen

WDR 3, 26.02.23 19.04 bis 19.50 Uhr

In ihrem Hörspiel „Über Grenzen“ erzählen die Dramatikerinnen Julia Gonchar und Anastasiia Kosodii die Geschichte einer Rückkehr in die Ukraine und begegnen dabei zwei toten Schriftstellern.

Die selbstgestellte Frage, was passieren könnte, wenn sie für kurze Zeit in die Ukraine zurückkehrt, antworten die Autorinnen Anastasiia Kosodii und Julia Gonchar mit einer Aufzählung, die mit „direkter Einschlag eines Marschflugkörpers“ beginnt, über „Schwangerschaft“, „Stromausfall“, den „indirekten Einschlag einer iranischen Drohne“ bis hin zu „entspannten Gesichtsmuskeln“ reicht, „weil man die Sprache spricht, die man von klein auf kann.“

Doch im O-Ton hört man die Sprache der Autorinnen in ihrem 45-minütigen Hörspiel „Über Grenzen“, dass zum Jahrestag der groß angelegten Invasion Russlands in die Ukraine gesendet wurde, nur selten. Dass der Krieg dort schon 2014 begonnen hat und dass nach dem „Holodomor“ – der von Stalin planmäßig herbeigeführten Hungersnot 1932/33 auch 1946 das ukrainische Getreide lieber an die sozialistischen Bruderländer verkauft wurde, als die Bevölkerung zu ernähren, wird nebenbei auch noch erwähnt.

„Iss alles, was Du haben kannst, auch wenn Dir schlecht wird“, ist die Weisheit die Julias Großmutter ihrer Enkelin mit auf den Weg gibt, denn sie hatte die vor Hunger angeschwollenen Bäuche ihrer sterbenden Geschwister gesehen. Was die über mehrere Generationen erfahrene Geschichte der Unterdrückung im kollektiven Gedächtnis anrichtet, ahnt man in diesem Stück. Und man bekommt auch mit, wie wenig man über die siebzig Jahre von Sowjet-Russland dominierte Ukraine weiß.

Anastasiia Kosodii (Merle Wasmuth), die zur Zeit Hausautorin am Nationaltheater Mannheim ist, wo demnächst ihr Stück „Wie man mit Toten spricht“ uraufgeführt wird, führt im Hörspiel ihrerseits ein imaginäres Totengespräch mit Mykola Chwylowyj (1893-1933). Chwylowyj (Moritz Heidelbach), war ein Vertreter der sogenannten „Roten Renaissance“ der Sowjet-Ukraine, der sich wegen des Säuberungsterrors erschossen hat. Da half auch keine Ergebenheitsadresse in der Zeitung „Kommunist“ mehr, weil man sich zu gut an sein Pamphlet „Weg von Moskau“ erinnerte, weshalb seine Generation später den noch sprechenderen Namen „erschossene Renaissance“ bekommen habe.

Julia Gonchar (Maike Jüttendonk) unterhält sich mit dem Erzähler und Romancier Mychajlo Kozjubynskyj (1864-1913), gesprochen von Peter Trabner, der ihr als Hund im Traum erscheint. Kozjubynskyj, genannt KZB, verfasste 1911 eine später verfilmte Romeo-und-Julia-Geschichte („Schatten vergessener Ahnen“), die, so Julia, als „Ikone des poetischen Films“ gilt – und die heute beim TÜV der politischen Korrektheit durchfallen würde. Julia kommentiert das einigermaßen ironisch und ist auch im Duktus nicht so streng: „Du bist wie künstliche Intelligenz, du wirst jedes Jahr aktualisiert.“

In ihrem Hörspiel (Übersetzung aus dem Ukrainischen: Lydia Nagel), das von Regisseurin Petra Feldhoff mit Einsprengseln ukrainischen Hip-Hops und auf einen gewissen Realismus abzielenden Atmosphären inszeniert wurde, versuchen die beiden Autorinnen, beide Anfang 30, nicht nur das Gedächtnis der Toten produktiv zu machen und sie auch zu adressieren. „Manchmal denke ich, dass der Krieg ein ständiger Prozess des Sammelns von Wörtern für die Toten ist, ein Prozess, bei dem man immer zu spät dran ist“, ist das Anastasiias Fazit. In Zeiten, in denen immer mehr Tote produziert werden und das kulturelle Gedächtnis der Ukraine vernichtet werden soll, ist das kein kleines Unterfangen – und hier ein durchaus gelungenes.

Jochen Meißner – KNA Mediendienst, 02.03.2023

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