Wenn fiktive und reale Welt verschmelzen
Juan S. Guse: Miami Punk: The complete DLC. Hörspiel-Spiel
NDR Kultur, Mi 21.9., 28.9., 5.10. 2022, 20.00 bis 22.00 Uhr
In der Hütte eines von seinen Auslandseinsätzen traumatisierten Bundeswehrsoldaten treffen sich drei Freunde, um in die dystopische Welt eines Pen-and-Paper-Rollenspiels abzutauchen. Das Hörspiel-Spiel „Miami Punk: The complete DLC“ von Juan S. Guse erzählt außerdem von unserer Gesellschaft und vom Erzählen.
Der Atlantik hat sich bis hinter die Bahamas zurückgezogen, die Küstenwache ist jetzt die „Desert Guard“ und immer öfter treiben sich Alligatoren zwischen den Häusern herum. Die Leute, die diese Plage im wahrsten Sinne des Wortes niederringen wollen, organisieren sich in Ringerclubs mit etwas bizarren Namen wie „Die olivgrünen Makrelen“ oder „Die violetten Tiger“. Sie arbeiten mit den zunehmend dysfunktionalen Behörden zusammen – die Grenzen zur organisierten Kriminalität sind fließend – und manche der Clubs agieren auch direkt als Todesschwadronen. Außerdem ziehen sogenannte Pilgerinnen in selbstmörderischer Absicht in die Wüste, und ein Hochhauskomplex hat sich mit unbekanntem Antrieb in die Lüfte erhoben und stürzt ein paar Tage später mitsamt der Bewohner ab. Die Welt, die sich der Spielleiter eines Pen-and-Paper-Rollenspiels in seiner einsamen Waldhütte für seine drei Freunde ausgedacht hat, ist schon ein wenig dystopisch.
Die insgesamt knapp fünfstündige Hörspielserie „Miami Punk: The complete DLC“, die ab dem 21. September mittwochs um 20 Uhr in drei Teilen im linearen Radio auf NDR-Kultur läuft und für die ARD-Audiothek in neun circa halbstündige Episoden konfektioniert wurde, ist ein Sequel zum 2019 erschienenen Roman „Miami Punk“ des deutsche Autors Juan S. Guse. Guse promoviert gerade in Soziologie an der Universität Hannover und ist beim Ingeborg-Bachmann-Preis in Klagenfurt mit dem Kelag-Preis ausgezeichnet worden. „DLC“ steht für „Downloadable Content“, also zusätzliche Inhalte, die zur Standardversion eines Spieles angeboten werden. Die Abkürzung wird weder im Stück noch auf der NDR-Website aufgelöst – das ist entweder schlechtes Handwerk oder das Schielen nach einem müden Distinktionsgewinn.
Damit so ein Rollenspiel funktioniert, muss Spielleiter Diego, gesprochen von Stefan Konarske, nicht nur über ein umfassendes Wissen über die von ihm erbaute Welt verfügen, er muss zugleich die NPC (Non-Player-Characters, Nicht-Spieler-Figuren) verkörpern, mit denen die drei Rollenspieler interagieren. Diego selbst ist, wie sich im Laufe der Serie herausstellt, ein von seinen Auslandseinsätzen in Afghanistan und Mali traumatisierter Bundeswehrsoldat. Seine Freunde Alba (Lisa Hrdina, im Spiel: Juanita), Belit (Taner Sahintürk, im Spiel: Javier) und Cobra (Sebastian Zimmler, im Spiel: Lars) führt er durch drei Abenteuer, die die Titel „Die olivgrünen Makrelen“, „Marsch der Toten“ und „Das ist nicht die Wahrheit, das ist Sand“ heißen.
Die Spieler können sich mit bestimmten Eigenschaften und Fertigkeiten ausstatten und Cobra gestaltet seine Rolle als Lars gleich als die eines Echsenmenschen – was das Spieluniversum um eine surreal-verschwörungstheoretische Dimension erweitert. Doch was „Miami Punk: The complete DLC“ von einem gewöhnlichen Rollenspielszenario unterscheidet, ist, dass hier die fiktive Welt in der letzten Folge mit einem überraschenden Twist, der hier nicht verraten werden soll, mit der realen Welt verschmilzt.
Nebenbei kann man das von Iris Drögekamp und Felix Lehmann inszenierte Stück nicht hören, dazu passiert viel zu viel auf einmal und man verpasst die Abzweigungen, die das Spiel hätte nehmen können, die metafiktionalen Diskurse über das Erzählen oder einfach ein paar gute Pointen. Komposition und Sounddesign von Nikolai von Sallwitz intensivieren die In-Game-Erfahrung der Charaktere wie die der Hörerschaft. Gegen Ende der letzten Folge leistet man sich eine gut einminütige, sehr heruntergepegelte Pause mit repetitivem Inhalt – das muss man sich in so einem actiongeladenen Umfeld erst mal trauen.
„Miami Punk“ ist als „Hörspiel-Spiel“ nicht der erste Versuch des Hörspiels sich Erzählweisen und Anmutungen der Spielkultur zu widmen. Schon 2014 versuchte Deutschlandradio Kultur mit dem Stück „Blowback / Der Auftrag“ von Elodie Pascal (alias Elisabeth Weilenmann) und 2015 der WDR mit dem Mystery-Thriller „39“ von Achim Fell, für die eigens Handy-Spiele entwickelt wurden, über das eigene Metier hinauszugehen. Das funktionierte mehr oder weniger gut. Weil Juan S. Guse aber kein Spieleentwickler, sondern ein Autor ist, der über sein Metier genauso viel nachdenkt wie über seine Figuren und die Verhältnisse, in denen sie leben, ist „The complete DLC“ weit mehr als das eskapistische Abtauchen in eine wohlig-schauerliche Fiktion.
Schon der Exkurs über den Müll in Episode 6 lohnt das Zuhören. Hier bedient sich Guse bei Don DeLillos Roman „Underworld“, der die Geburt von Kultur und Wissenschaft aus dem Geist des Mülls beschreibt. Denn seit der Sesshaftwerdung des Menschen wird der Müll zu einem Problem, das mit wissenschaftlichen und künstlerischen Mitteln bearbeitet werden muss. Heute fressen sich in der sogenannten Dritten Welt die Müllberge in die Städte, aber auch aus der Perspektive von Mitspieler Belit, im Zivilleben Bürgermeister einer mittelgroßen deutschen Stadt, ist seine Welt umringt von Deponien und Verbrennungsanlagen – Ursprung und Untergang der Kultur treffen sich. Unbedingt hörenswert.
PS: „Miami Punk“ ist eine Koproduktion des Norddeutschen Rundfunks (NDR) mit dem Südwestrundfunk (SWR) und man hat sich, wie schon 2017 für den Science-Fiction-2-Teiler „Ikaria 6“ von Benjamin Maack Illustrationen von Sebastian Stamm („The Stamm“) gegönnt. Doch anstatt animierter Bildsequenzen zum Hörspiel gibt es nur neun Standbilder, die im Kontext der NDR-Website merkwürdig deplatziert wirken. Dabei konnte man das in der ARD schon mal besser – auf der Website des ARD-“Radio Tatorts“, aber die ist schon vor Jahren abgeschaltet worden.
Jochen Meißner – KNA Mediendienst, 22.9.22
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