Verwinkelter Denkraum

Luise Voigt: Raumzeit – gesammelte Entwürfe zum Wesen der Wirklichkeit

HR 2 Kultur, S Uhr

Ästhetik kommt von dem griechischen Begriff „aisthesis“, der Wahrnehmung bedeutet. In ihrem Hörspiel „Raumzeit“ versammelt Luise Voigt Entwürfe zum Wesen der Wirklichkeit, die von einer quantenmechanischen Unterströmung gespeist ins Poetische vordringt.

Nicht erst seit es das Kino gibt, wissen wir, dass ab einer Frequenz von 18 Bilder pro Sekunde das menschliche Auge keine Einzelbilder mehr wahrnimmt, sondern eine kontinuierliche Bewegung. Luise Voigts Entwürfe zum Wesen der Wirklichkeit, die sie für ihr 59-minütiges Hörspiel „Raumzeit“ gesammelt hat, beginnen mit der Wahrnehmung von Zeit.

Gesetzt den Fall, dass die Wahrnehmungsrate konstant bleibt, und man alle Sinneseindrücke eines 80-jährigen Lebens auf einen Monat komprimiert oder auf 80.000 Jahre ausgedehnt würden: die Welt wäre eine andre. Im ersten Fall würde sie beinahe stillstehen. Schon der Wechsel der Jahreszeiten würde ein normales Leben überschreiten. Im zweiten Fall würde die Sonne scheinbar wie ein Feuerring die Erde umkreisen.

Das Liquid Penguin Ensemble hat mit seinem mehrfach ausgezeichneten Stück „Gras wachsen hören“ (SR 2007) die Kommunikation mit Pflanzen, die eine sehr viel längere Lebensspanne als Menschen haben, humorvoll erforscht. Doch in Luise Voigts Stück bildet die Zeitwahrnehmung nur den Auftakt zum insgesamt sieben Teile und elf Lieder umfassenden Hörspiel, das davon ausgeht, dass der Mensch nicht umhin kann, sich selbst als Maßstab für Raum und Zeit zu nehmen. Wie es schon der Mediziner und Naturforscher Karl Ernst von Baer sagte, als er sich 1862 Gedanken darüber machte, welche Auffassung von der lebenden Natur die richtige sei.

Die Welt aus Sicht der Zecke

Das Weltverhältnis einer Zecke, die blind und taub sich nur mittels ihres Geruchs- und Wärmesinns sowie ihres Gespürs für möglichst haarlose Körperoberflächen orientiert, ist ein wesentlich anderes als das menschliche. Luise Voigt zeigt das anhand der Forschungen des Biologen Jakob von Uexküll auf, vermittelt über einen Text des Philosophen Giorgio Agamben. Üexküll vermutet, dass eine Zecke, die in seinem Laboratorium 18 Jahre isoliert und ohne Nahrung überlebt hat, sich „während ihrer Wartezeit in einem schlafähnlichen Zustand befinde“ und dass es „ohne lebendes Subjekt weder Zeit noch Raum geben kann.“

Im dritten Teil des Hörspiels beschäftigt sich der Geschwindigkeitsphilosoph Paul Virilio mit dem Milliardär Howard Hughes, des gegen Ende seines Lebens in identisch eingerichteten Wohnungen rund um die Welt gelebt habe und so einen Nicht-Ort schuf, der gleichzeitig ein Überall war, von dem aus er seine Macht ausübte – eine Gottesposition.

Stephen Hawking hingegen externalisiert seinen Geist aus seinem durch amyotrophe Lateralsklerose hinfälligen Körper in einen Votrax-Allophongenerator, mit dessen Hilfe er sich artikulieren und kommunizieren konnte, wie im vierten Teil die Medientheoretikerin Sandy Stone ihre Wahrnehmung interpretiert. Die Entwicklung in ein „posthumanes Stadium“ ist damit vorgezeichnet.

Alternative Evolution

Warum dann nicht Simulationen der menschlichen Spezies herstellen, wie sich der schwedische Zukunftsforscher Nick Bostrom fragt. Dann könnte man sogenannte „Ahnen-Simulationen“ schaffen, um alternative Verläufe der menschlichen Evolution in Erfahrung zu bringen. Wenn wir denn nicht schon selbst längst in einer Simulation leben. Denn in nahezu allen Bereichen benutzen wir Simulationstechniken: in der Forschung, in der Kultur, der Wirtschaft „und nicht zuletzt finden wir als Kinder spielend, sprich: simulierend, in unser Leben“, wie es im Stück heißt.

Im sechsten Teil zieht Luise Voigt grobe Schlussfolgerungen aus Karen Barads „agentiellem Realismus“. Barad, die über Quantenfeldtheorie promoviert hat und als feministische Theoretikerin (Pronomen: they/them) arbeitet, fasst Zeit und Raum als quantenmechanische Unbestimmtheitsrelationen auf.

Den Schlusspunkt im siebten Teil bildet Alexander Kluge, der in seinem Text „Geistererscheinung über dem Brocken“ an eine Skizze des Theatermachers Einar Schleef anschließt. Eine von seiner Klavierlehrerin beobachtete Lichterscheinung in der Walpurgisnacht 1945 interpretiert Schleef als „Fehlschaltung in die Feldlinien der Spiritualität jener Nacht“, in der sich die Propagandaphrase „Nun Volk steh auf und Sturm brich los“ quasi materialisiert habe.

Wissenschaft und Weltverhältnis

Luise Voigts Hörspiel „Raumzeit“ weist formale Ähnlichkeiten zu Armin Chodzinskis radiophonem „Conversationslexikon“ (Kritik hier) auf. Doch wo sich Chodzinski um begriffliche Genauigkeit bemüht, überschreitet Voigt die Grenzen zum Poetischen. Das hat seine eigene ästhetische Wertigkeit – und Ästhetik kommt schließlich vom griechischen Begriff „aisthesis“ für Wahrnehmung. Aber wie fast immer, wenn wissenschaftliche Termini zur metaphorischen Beschreibung von Weltverhältnissen oder gar von gesellschaftlichen Zuständen benutzt werden, ist Vorsicht angesagt. Denn schnell hat sich die Weltwahrnehmung von den theoretischen Grundlagen entfernt, die sie vorgeblich legitimieren.

Einerseits bedeuten die quantenmechanischen Überlegungen, die einige der Vorstellungen vom Wesen der Wirklichkeit speisen, für unsere makroskopische Raumzeit überhaupt nichts. Und andererseits sind es Vorstellung unserer Makro-Welt, die den Blick auf die Quantenwelt formt.

Die Qualität von Luise Voigts Hörspiel realisiert sich vor allem über das vierköpfiges Ensemble Catherine Stoyan, Manuel Harder, Annika Schilling und Fabian Kulp. Zur Musik von Nicolas Haumann vollziehen die Vier gleichsam tastend die Theorien nach, die sie präsentieren. Dazu singen sie selbst – und sehr schön – Kantaten von Bach und Purcell bis hin zu Songs von den Pixies oder Soap and Skin – schon dafür lohnt es, sich auf dieses Hörspiel einzulassen. Auf ein Hörspiel, das einen verwinkelten Denkraum öffnet, in dem man sich aber getrost verirren kann.

Jochen Meißner – KNA Mediendienst, 09.05.2024

 

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