Verschobene Realitätswahrnehmungen
Der 3. Kölner Kongress: Reflexionen zum Thema „Erzählen. Sound. Öffentlichkeit.“
Unter dem Motto „Erzählen. Sound. Öffentlichkeit.“ fand am 15. und 16. März 2019 zum dritten Mal der Kölner Kongress statt, den der Deutschlandfunk (DLF) zusammen mit der Kölner Kunsthochschule für Medien (KHM) ausrichtete. Der kraftvoll interpunktierte Titel hätte nicht weiter gefasst sein können.
Das „Erzählen in den Medien“, wie die ersten beiden Kölner Kongresse betitelt waren, ist spätestens seit dem 19. Dezember vorigen Jahres auch abseits der Fachdiskussionen unter Journalisten zum Thema für eine breitere Öffentlichkeit geworden. An jenem Tag gab der „Spiegel“ bekannt, dass der mehrfach preisgekrönte Reporter Claas Relotius in dem Blatt Geschichten untergebracht hatte, in denen er es mit der Wahrheit und der Wirklichkeit nicht sonderlich genau genommen hatte (vgl. MK-Artikel). Relotius war sozusagen ein besserer Storyteller als Rechercheur gewesen. So widmete sich denn auch beim Kölner Kongress eine Diskussionsrunde dem Thema „Fake Feature(s) – Über Storytelling und Realität“. Radiofeature-Autor Tom Schimmeck konstatierte, dass das eigentliche Problem des Falles Relotius nicht etwa die Fälschungen des Autors gewesen seien, sondern der Umstand, wie perfekt er den Erwartungen seines Mediums entsprochen habe.
Abholen, mitnehmen, herunterbrechen
Darüber, dass Objektivität selbst eine Fiktion sei, weil schon jede Auswahl eines Gesprächspartners, eines O-Tons, eines Bildausschnitts alle anderen Möglichkeiten ausblende, herrschte in der von der DLF-Redakteurin Tina Klopp moderierten Diskussionsrunde schnell Einigkeit. Ebenso darüber, dass jede Auswahlentscheidung redlich getroffen werden müsse, um dem Gegenstand gerecht zu werden. Fiktionales, wie etwa eine ausgedachte Rahmenhandlung, sei auch dann kein Problem, wenn transparent gemacht werde, was Fiktion und was Realität sei.
„Kommunikation ist Manipulation, das muss man einfach wissen, wenn man Kommunikation rezipiert, aber auch wenn man sie herstellt“, sagte in der Diskussionsrunde der Dokumentarfilmer Daniel Sponsel, der auch Leiter des Internationalen Dokumentarfilmfestivals München ist. Dass es im Dokumentarfilm eine Trias von Beobachtung, Arrangement und Inszenierung gäbe, war den meisten Radioleuten im vollbesetzten Foyer des Deutschlandfunkhauses am Kölner Raderberggürtel hörbar fremd. Eine Beobachtung im Dokumentarfilm ist, wie Sponsel ausführte, das einmalige, unwiederholbare Ereignis, auf das man nur die Kamera draufhalten kann, ein Arrangement das nach bestimmten Verabredungen (Kameraposition, Licht, etc.) gestaltete Ereignis und eine Inszenierung, wenn man seinen Protagonisten sagt, was sie wie zu tun haben.
Grundproblem war für Sponsel aber das, was er höflich als „modellhaftes“ Erzählen bezeichnete und was auf Emotionalisierung und Identifikation abziele – Stichwort ‚dreiaktige Heldenreise‘. Man war, wenn man danach geht, doch sehr erstaunt, wie niedrig die Anforderungen an mediales Erzählen im Dokumentarischen letztendlich sind oder sein können. Wenn Journalistenschülern beigebracht wird, dass man das Publikum irgendwo „abholen“ oder irgendwohin „mitnehmen“ müsse, ist das eine Ausbildung im trivialstmöglichen Erzählen. Der Gegenbegriff zum (Trivial-)Modellhaften, ist für Sponsel das Komplexe, und das bedeutet, dass komplexe Verhältnisse eben auch komplexere Erzählmodelle erfordern. Eine Volkswirtschaft funktioniert eben anders als der Haushalt einer schwäbischen Hausfrau und kann auch nicht auf dieses Niveau „heruntergebrochen“ werden.
Identitätsbedürfnisse und DDR-Herkunft
Das Storytelling ist im Journalismus eine Strategie der Bewältigung von Komplexität. Dass aber die besten Storyteller paradoxerweise Komplexität durch Überkomplexität reduzieren, konnte man in einer anderen Diskussionsrunde in Köln erfahren. Wie man mit einem Maximum an überprüfbarem Detailwissen ein komplett wahnsinniges Weltverständnis samt simpelster Schuldzuweisungen generieren kann, schilderten der Feature-Autor und Leiter der SWR-Abteilung ‚Hörspiel und Feature‘, Walter Filz („Akte 88“; Kritik hier), und der Radio- und Buchautor Christian Schiffer in der Diskussionsrunde „Faszination Verschwörungstheorie“. Schiffer wurde für sein Radiofeature „Schöner neuer Wahn. Eine Verschwörungstheorie Marke Eigenbau“ mit dem Robert-Geisendörfer-Preis ausgezeichnet (vgl. MK-Meldung). Dass man sich in Diskussionen mit den Vertretern der Theorie, dass die Erde eine Scheibe sei, am besten bei denen munitioniert, die die Erde für eine Hohlwelt halten, ist dabei nur ein schwacher Trost. Denn inzwischen gibt es schon hybride Vorstellungen, die beide „Theorien“ vereinigen. Von dem Verschwörungstheorie-Podcast „Akte 88“ soll es übrigens bald eine zweite Staffel geben.
Dass Verschwörungstheorien besser Verschwörungsnarrative genannt werden müssten – weil Theorien prinzipiell falsifizierbar sein müssen –, war ein Ausgangspunkt im Gespräch von Filz und Schiffer, geriet aber bald aus dem Blick. Wobei es beim Kölner Kongress überhaupt versäumt wurde, den in letzter Zeit inflationär gebrauchten Begriff des Narrativs trennscharf zu definieren. Das rächte sich bei einem anderen Themenschwerpunkt der Veranstaltung, bei dem es in mehreren Vorträgen und Diskussionen um ostdeutschen Thematiken ging, unter Überschriften wie „Die unerzählte DDR im Film“, „Neues Erzählen von der DDR“, „Radiogeschichte im Osten“ und „Erzählen vom Alltag in der DDR“. Anlässlich des Jubiläums ’30 Jahre Mauerfall’ – je nach geschichtsphilosophischer Präferenz für die einen eine „friedliche Revolution“, für andere eine „Annexion der DDR“ – gibt es offenbar ein verstärktes Interesse, Geschichte(n) aus dem Beitrittsgebiet neu zu erzählen.
Nur abbilden und langweilen?
Ausgangspunkt war die steile These, dass sich die Narrative über die DDR in den vergangenen Jahren überwiegend westdeutscher Identitätsbedürfnisse bedient hätten. Man fühlte sich fatal an das schon in den 1990er Jahren erhobene Wehklagen erinnert, man habe den Ostdeutschen ihre Identität gestohlen. Wenn man aber einmal auf dieser Schiene des Identitätsdiskurses unterwegs ist, dann ist die Richtung vorgegeben.
So stellte Ulrike Bajohr, die in der Wendezeit beim DDR-Jugendsender DT 64 in Berlin arbeitete, bevor sie 1994 als Feature-Redakteurin zum Deutschlandfunk nach Köln ging, als einzige die Frage, ob das aktuelle Interesse am Osten nicht auch mit den Wahlerfolgen der rechtsextremen AfD zu tun haben könnte. Es sind komplexe Fragen, inwieweit die autoritären Prägungen durch die Diktatur auch die Nachgeborenen formen oder inwieweit ökonomische Fehlentscheidungen im deutsch-deutschen Vereinigungsprozess rechtspopulistische Einstellungen befördern. Dass die historische Entwicklung in Ostdeutschland nach 1989 beim Kölner Kongress so offensiv ausgeblendet wurde, war schon auffällig. Solche Geschichten entziehen sich offensichtlich einer simplen Dramaturgie. Stattdessen plant Ulrike Bajohr für den Herbst 2019 auf dem von ihr betreuten Feature-Sendeplatz am Freitagabend (20.10 Uhr) eine Reihe von Erfolgsgeschichten früherer DDR-Bürger. Das ist gut und richtig, bewegt sich aber auf der Achse desselben Narrativs, an deren Polen auf der einen Seite die Erfolgreichen und auf der anderen Seite die sprichwörtlichen „Abgehängten“ stehen.
Was also tun? „Nur abbilden und langweilen?“, hatte Tina Klopp in der Diskussionsrunde zum Thema „Fake-Feature(s)“ in provokativer Absicht gefragt und bekam darauf keine befriedigende Antwort. Hilfreich wäre es zunächst einmal, sich nicht von bestimmten Interessengruppen die Narrative aufdrängen zu lassen und nicht deren „Framing“ zu übernehmen – um das andere Buzzword der gegenwärtigen Mediendiskussion zu verwenden. Denn sobald man sich – und sei es durch Abgrenzung – in deren verschobenen Realitätswahrnehmungsrahmen bewegt, hat man schon verloren. Denn niemand bespielt das Opfer-Narrativ so effektiv wie die Rechtspopulisten von AfD, Pegida und denen, die sich „Identitäre“ nennen.
Wieder auf das Akustische setzen
Wie man Realität anders wahrnimmt als gewohnt und wie man Realitäten neu inszeniert und initiiert, konnte man im Vortrag der Radiomacherin Tina Klatte hören, die zusammen mit Ralf Wendt beim freien Hörfunksender Radio Corax in Halle an der Saale mit einer Live-Sendung die morgendliche Pendlerbewegung von Leipzig nach Halle begleitet hat. Das heißt, es wurden vorproduzierte Beiträge in denselben öffentlichen Raum in Halle eingespielt, aus dem gleichzeitig gesendet wurde. Dadurch wurde der transitorische und mediale Charakter des öffentlichen Raums selbst hörbar gemacht. Dabei müssen die Inhalte nicht spektakulär sein, um in die öffentliche Kommunikation einzugreifen, unerwartete Begegnungen zu ermöglichen und mit der unmittelbaren wie der medial vermittelten Selbst- und Fremdwahrnehmung der Interviewpartner zu spielen. Außerdem wurden durch das Programm von Radio Corax Möglichkeitsräume für neuartige Medienerzählungen geschaffen, ortsbezogene Audioinszenierungen beispielsweise.
Unterschiedliche kommunikative Figurationen in der Rezeption des Radios zeichnete beim Kölner Kongress der Medienwissenschaftler Hans-Ulrich Wagner in seinem Vortrag nach. Dabei kam er zu dem Ergebnis, dass sich gegenwärtig die Modi der Mediennutzung wandeln, was sich auch auf die Auftragserfüllung des klassischen linearen Hörfunks der öffentlich-rechtlichen Anstalten auswirken muss. Denn das Radio ist nicht nur Vermittler von Kultur, sondern auch Produzent seiner eigenen Radio-Kultur (siehe den Vortrag hier).
Dass man in Zeiten der Dominanz des Visuellen wieder auf das Akustische setzen solle, war die These des amerikanischen Sozialphilosophen Richard Sennett („Der flexible Mensch“, „Die offene Stadt“), mit dessen Vortrag der Kongress begonnen hatte. Das Akustische stelle stets eine kontextuelle Beziehung in der Zeit her, während das stillgestellte Bild nur auf sich selbst verweise. Es stehe ähnlich wie die E-Mail in einem deklarativen und nicht in einem dialogischen Verhältnis zum Betrachter. Wobei Sennett gleichzeitig anmerkte, dass optische wie akustische Aufzeichnungssysteme – und jedes Smartphone ist ein solches System – einen repressiven Charakter hätten, Stichwort ‘Überwachungskapitalismus’.
Im Sennettschen Sinne emanzipativen Charakter hingegen hatte das auf dem Kölner Kongress gebotene chillige Live-Hörspiel „Chant du Nix – ‚Radiomusik‘ für Lautsprecherpublikum“ von Michaela Melián, durch das man sich im Kammermusiksaal des Deutschlandfunks wie durch eine Soundinstallation frei hindurchbewegen konnte. Senderkennungen und Pausenzeichen längst verblichener Radiostationen wurden hier in die musikalischen Kontexte zurückgeholt, aus denen sie ursprünglich entnommen worden waren. Und auch das zweite auf dem Kongress vorgeführte Live-Hörspiel „Ponto dos Mentirosos – Atlas eines Dorfes“ von Nina Hellenkemper und dem Duo Merzouga setzte auf die erzählerische Kraft musikalischer Formen und das zeitbasierte, dialogische Prinzip, bei dem in der Interaktion zwischen Künstler und Publikum das Werk erst entsteht.
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