Unbelichtet und vergänglich
Die kleine Radiovorschau, 22. bis 29. Juni 2012
Gemütlicher Treffpunkt für Melancholiker? Oder ein Spukhotel, bewohnt von potentiellen Selbstmördern? In der Villa »Ludwigshöhe« (Sa., 15 Uhr, BR 2) haben drei Geschwister ein Sterbehospiz eingerichtet. Nicht aus Nächstenliebe, es ist eine Auflage ihres Erbonkels. Die mancherorts bereits etablierte Geschäftsidee, Kranken und Verzweifelten ein menschenwürdiges Dahinscheiden zu offerieren, finden sie gar nicht übel. Dumm nur, daß das skurrile Panoptikum der »Patienten« für sie kaum zu beherrschen ist. Die meisten sind nämlich schon bald nach ihrer Selbsteinweisung in Feierlaune.
Morbide geht es auch in »Tötet den Schiedsrichter!« (So., 14 Uhr, rbb Kultur) zu. Es gilt Rache zu üben für Rußlands verpaßten EM-Sieg. Schuld ist wie so oft der Unparteiische. Die beiden Junkies Hotdog und Pepsi, der Wachmann Petja und die Kupplerin Natascha machen sich auf die Suche. Das Stück der Brüder Oleg und Wladimir Presnjakow wurde 2009 als Hörspiel des Monats Januar ausgezeichnet.
Für »Vor dem Ersticken ein Schrei« (So., 15 Uhr, Mo., 20 Uhr, BR 2) erhielt der Autor Christoph Buggert im Jahr 1978 den Hörspielpreis der Kriegsblinden. Damals (1976–2002) war er Hörspielchef des hr. In seiner Preisrede ging er auf die Notwendigkeit ein, das »Mitfühlen-Miterleben-Mitdenken-Mitphantasieren« in den Köpfen des Publikums nicht zu vernachlässigen. Tut man es doch, verkommt ein Hörspiel zu White Noise.
Ror Wolf hat von der Bearbeitung monströser Materialsammlungen in seinen Fußballhörspielen bis zur Kurzform etwa in seinem »Ratschläger« schon so einiges ausprobiert. Jetzt will er sich dem Schreiben einer Autobiographie widmen, wie er kürzlich in der Sendung »Druckfrisch« sagte. Am 29. Juni wird er 80, zu der Gelegenheit ist sein Hörspiel »Leben und Tod des Kornettisten Bix Beiderbecke aus Nord-Amerika« aus dem Jahr 1986 gleich mehrfach zu hören (So., 18.20 Uhr, SWR2; Mo., 22 Uhr, MDR Figaro; Mi., 20 Uhr, NDR Kultur).
Alexander Kluge sagte vor kurzem im Deutschlandradio Kultur, das Kino biete mehr Platz für die Imagination des Zuschauers als das Fernsehen. Aus dem Grund, daß die Leinwand in genau gleichen Zeiträumen belichtet und unbelichtet ist, was Auge und Hirn wohl nur vordergründig entgeht und vielleicht sogar etwas entspannt. Die Vertonung eines Films bietet dann wohl noch mehr Imaginationspotential. »I’m a Cyborg, but That’s OK« ist in der 2008er Hörspielfassung von DKultur zu hören (Sonntag, 18.30 Uhr).
Begeisterte Reaktionen erhielt SWR 2 für den langen Bloomsday mit der Non-Stop-Sendung der Hörversion von »Ulysses«. Ein Beweis für den Bedarf an Kunst im Radio.
Rafik Will, 22.06.2012 junge Welt
Schreibe einen Kommentar