Stoppuhr-Menschen und verrückte Maschinen

FM Einheit und Siegfried Zielinski: Was kostet den Kopf? Eine Ringschaltung

SWR 2, Sa, 20.05.2023, 23.03 bis 0.05 Uhr

Um herauszufinden wie die fragile Hybridität von Mensch, Maschine und Natur gegenwärtig aussieht, haben sich der Hörspielmacher FM Einheit und der Medienwissenschaftler Siegfried Zielinski die Manifeste der Kinoki um den Filmemacher Dziga Vertov von 1922/23 angesehen. Sie kommen zu erstaunlichen Ergebnissen.

Die „Ringschaltung“, als die FM Einheit und Siegfried Zielinski ihr 62-minütiges Hörspiel „Was kostet den Kopf?“ bezeichnen, beginnt mit dem O-Ton eines lautpoetischen Gedichts von Alexej Krutschonych aus der ersten futuristischen Oper „Sieg über die Sonne“ aus dem Jahr 1913. Die onomatopoetischen Laute auf „Krr“ erinnern an maschinelle Feuerwaffen, die kurz darauf im Ersten Weltkrieg weiche Ziele niedermähen sollten. Das Gedicht klingt wie ein idyllischer Vorschein zu Ernst Jandls Sprechgedicht „schtzngrmm“ aus dem Jahr 1957.

Dass die Technik-Euphorie der ersten europäischen Avantgarde Ausdruck eines vor allem in Osteuropa herrschenden Mangels an Technik sei, ist eine der Thesen von Siegfried Zielinski im Hörspiel. Mit dem Medienhistoriker Zielinski hat FM Einheit im gemeinsamen Stück „Radio Freie Modulationen“ gerade erst virale Strategien im Rundfunk analysiert und ausprobiert (vgl. MD 7/23). In der neuen Produktion geht es um nichts weniger als „die Erkundung der fragilen Hybridität einer neuen Beziehung von Menschen, Maschinen und Natur, das anarchische und poetische Potenzial künstlicher Extelligenz“.

Historisch ist für solche Projekte die Form des Manifestes die geeignete. Italienische und russische Futuristen wollten schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts Mensch und Maschine vermählen. Die für das Hörspiel relevanteren Manifeste stammen allerdings aus den Jahren 1922/23: „Wir. Manifest der Kinoki“ heißt das eine, „Wir. Variante eines Manifests“ das andere. Darin fordern David Abeljewitsch Kaufman aus Bialystok, der sich als Künstler Dziga Vertov nennt, seine Brüder Andreas und Michail und dessen Frau Elizaveta Svilova „die Zukunft der Filmkunst durch die Ablehnung ihrer Gegenwart“. Außerdem die Säuberung der Filmsache „von allem, was sich einschleicht, von der Musik, der Literatur und dem Theater; wir suchen nirgendwo gestohlenen Rhythmus und finden ihn in den Bewegungen der Dinge“.

Das könnte man vom Hörspiel auch fordern, das immer noch gerne als abgeleitete Kunstform („Kino im Kopf“ oder ähnliches) missverstanden wird. Kinoki nannten sich die Verfasser des Manifests in Abgrenzung zu den sogenannten Kinematographisten („der Herde von Trödlern, die nicht übel mit ihren Lappen handelt“). Heute könnte man Kinematographisten im öffentlich-rechtlichen Bereich vielleicht mit „Degeto“ übersetzen.

Diesen Flachverwertern von Bildern hat Dziga Vertov 1929 den bahnbrechenden dokumentarischen Experimentalfilm „Der Mann mit der Kamera“ (Čelovek s kinoapparatom) entgegengeschleudert. Zwei Jahre nach Walter Ruttmanns „Berlin – Die Sinfonie einer Großstadt“ probierte hier Vertov alles aus, was der Film kann: Zeitraffer, Jump Cuts, Splitscreens, und so weiter, und so fort. Was Hans Fleschs „Zauberei auf dem Sender“ für das Hörspiel war, war „Der Mann mit der Kamera“ für den Film – ein früher Meilenstein in der Geschichte seines Mediums.

Doch der Film interessiert in Hörspiel weniger als die dahinterstehenden Konzepte. Der ob seiner Unbeherrschtheit von den Maschinen beschämte Mensch, sei durch „das Psychologische“ daran gehindert „so genau wie eine Stoppuhr zu sein“, um sich mit der Maschine zu verschwägern. Im Film aber könne man die schlankesten und schnellsten Beine, die geschicktesten Hände und den schönsten und ausdrucksvollsten Kopf nehmen und durch die Montage einen neuen, vollkommenen Menschen schaffen.

Einhundert Jahre später ist das Zeitregime der Stoppuhr in die Menschen inkorporiert: Bauch, Beine, Po werden an Maschinen trainiert und die Köpfe optisch gefiltert. Zusätzlich ist das Mobiltelefon eine Extension des Menschen geworden, mittels dessen er sich mit der Welt teilt, wie es FM Einheit im Hörspiel mit dem Song „Me and my Eye-Phone“ besingt. Denn heute ist jeder ein „Mensch mit einem kinematographischen Apparat“ wie Zielinski Vertovs Filmtitel gender- und mediengerecht übersetzt. Was Vertov analog vorgemacht hat, kann heute von jedermann und jederfrau im Bewegtbildmedium TikTok umgesetzt werden.

„Der homo faber, der schaffende Mensch, ist längst genauso in die hyperreale Welt eingegangen wie der homo generator, der Welterzeuger, sowohl ihre Voraussetzung wie auch ihr Bestandteil geworden ist“, führt Siegfried Zielinski seine These weiter: „Der homo artefactus, der wir zu Beginn des 21. Jahrhunderts geworden sind, ist ein aus Natur und Technologie hochgradig zusammengesetztes Wesen.“ Und das hat Konsequenzen, denn weil das Andere der Maschinen, das Andere in den Maschinen geworden ist, können Maschinen nicht nur Zustände haben, „sie können auch verrückt werden – frivole technische Wesen auf dem Weg, ganz normale Subjekte zu werden“.

Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass bei der Vermählung von Mensch und Maschine nicht wie gehofft „das Psychologische“ eliminiert wurde, sondern die Maschinen – jene „Extelligenzen“ vom Anfang – , die wir mit unseren Neurosen und Melancholien gefüttert und trainiert haben, menschlicher, will heißen dysfunktionaler werden. Ganz im Sinne eines funktionierenden Terrorregimes wurden derartige Ideen im stalinistischen Russland eliminiert. Einem der Protagonisten des Hörspiels, dem russischen Lyriker Alexej Gastev, dessen Texte schon in dem Hörspielgroßprojekt „Symphonie der Sirenen“ von Andreas Ammer und FM Einheit (BR, Philharmonie Brünn 2018) verwendet wurden, kostete das buchstäblich den Kopf.

Neben Einheit und Zielinski sind auch die Stimmen von David Bennent, Anthony Moore und Meret Becker zu hören. Letztere intoniert auch an der singenden Säge Texte der Kinoki. Zusammen mit den patinierten Maschinengeräuschen und zuweilen vertrackten Rhythmen von FM Einheit ergibt sich ein spannungsreiches Hörerlebnis, in dem Schiffssirenen Morsezeichen tuten und Menschen das Display sind, auf dem die Zeit ihr Vergehen anzeigt.

Jochen Meißner – KNA Mediendienst, 01.06.2023

 

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