Sehtexte – Sprechtexte – Hörtexte
Herta Müller: Zeit ist ein spitzer Kreis
BR 2, So 12.01.2013 15.05 – 15.30 Uhr / Mo, 13.01.2013, 20.03 – 20.28 Uhr
Seit mehr als 20 Jahren schneidet Herta Müller, die rumäniendeutsche Literaturnobelpreisträgerin, Wörter aus Zeitschriften aus und klebt sie auf Karteikarten. Was als Ansichtskartenersatz begann, hat sich zu einer eigenständigen Art des literarischen Schreibens entwickelt, wie es zum Beispiel in ihrem Collagenband „Vater telefoniert mit den Fliegen“ veröffentlicht wurde. Im Lauf der Zeit ist Herta Müller die grafische Komponente immer wichtiger geworden, obgleich die Texte auch ohne sie bestehen können müssen, wie sie in einem Gespräch mit BR-Chefdramaturg Herbert Kapfer verraten hat, das bei Bayern 2 im Anschluss an ihr neues Hörspiel ausgestrahlt wurde. Neben der Grafik seien auch Rhythmus und Klang mindestens ebenso wichtig wie der Inhalt. Der Text „muss in den eigenen Mund passen“, sagt Herta Müller, „wenn das nicht so ist, dann stimmt an dem Satz etwas nicht.“
Der Lautpoet, Schriftsteller und Hörspielmacher Michael Lentz hat aus 39 bisher unveröffentlichten Textcollagen Herta Müllers das 25minütige Hörspiel „Zeit ist ein spitzer Kreis“ gemacht. Die Musikalität, mit der Herta Müller ihre Texte komponiert, vereinfachen deren Realisierung im akustischen Medium, weil schon im Produktionsprozess der Texte die Rezeption mitgedacht ist: „Schreiben ist auch hören. Ich lese alles, was ich schreibe, laut“, sagte sie dem „Spiegel“ (Nr. 35/12).
Anders als bei der Hörspielbearbeitung von rein auf dem Zeichensystem Schrift basierenden Texten ergeben sich bei Collagen aus vorgefundenem Material andere Herausforderungen. Wie repräsentiert man im akustisch-linearen Medium den unterschiedlichen Charakter der Typografie und Farbigkeit des Materials aus der zweidimensionalen Welt des Textblattes? Und wie schafft man eine Verbindung zwischen den für sich stehenden Texten, ohne dass dabei eine Nummernrevue entsteht?
Michael Lentz hat in seiner Inszenierung der Versuchung der illustrativen Überbietung widerstanden und auf die Reduktion gesetzt. Zwei Stimmen, seine eigene und die der Autorin, tragen die Texte vor. Wobei man sich manchmal fragt, warum der Regisseur Lentz den Schauspielbedarf des Sprechers Lentz an bestimmten Stellen nicht etwas gebremst hat. Herta Müller ist mit ihrer charakteristischen Sprachfärbung in der Regel für die größeren Bögen der Sinneinheiten zuständig, während Michael Lentz die Wörter der Texte an einer bestimmten Stelle separiert und sehr überzeugend Wort für Wort, Silbe für Silbe, Zischlaut für Zischlaut die Bestandteile des Textes und die (akustische) Materialität der Wörter hörbar macht. Auf digitale Effekte kann Lentz bei seiner Verfahrenstechnik der Analyse und Montage weitgehend verzichten. Dabei werden auch Neuanordnungen der semantischen Einheiten ausprobiert wodurch andere Bedeutungsebenen der Texte freigelegt werden: „Das, was man sprach, zerbrach still oder laut wie eine Eishaut. Im Verdacht erschien das rote Pferd, sein Herzschlag rasselt in einem selbst wie eine Erbsenschote.“ Durch eine kleine Grenzüberschreitung der Sätze kann sich so „eine Eishaut im Verdacht“ zusammenziehen.
Auf die Farbe Rot, so erfahren wir aus dem Gespräch mit Herbert Kapfer, reagiert Herta Müller besonders empfindlich, weil dies die Farbe des Regimes der kommunistischen Unterdrückung in Rumänien war. Deshalb verbiete sich grafisch für ihre Collagen die Kombination Blau-Gelb-Rot, da dies die Farbanordnung der rumänischen Flagge sei. Doch auch ohne diese allzu eindeutige Farbcodierung teilt sich (auch im Hörspiel) mit, dass Herta Müllers Textcollagen stets von den realen Zumutungen der Welt handeln, denen das lyrische Ich ausgesetzt ist. Zumutungen, die sich in Naturmetaphern oder Motivkomplexen wie dem der „Milch“ oder dem des „Samtes“ realisieren, der ihr als „Kältesamt am Hals“ die Kehle zuschnürt: „Deswegen hat die Rache aus Samt, die man nicht sieht, mich mehr als die Mütze des Staats ruiniert.“ Herta Müller ist in ihrer Lyrik sehr konkret und ihre als Seh- und Sprechtexte konzipierten Collagen funktionieren in der von Michael Lentz angelegten kompositorischen Großstruktur auch als Hörtext, der den poetischen Refrain „Kam ein Wind so / frisch wie Milch / so alt wie Lehm, / wurde anschmiegsam und / sah mich von innen an“ nach und nach erhellt.
Jochen Meißner – Funkkorrespondenz 3/2014
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