Salzwasser gegen den Durst
Andres Veiel: Das Himbeerreich
RBB Kulturradio, Fr 9.5.2014, 22.04 bis 23.00 Uhr
Horst Köhler, der frühere Bundespräsident und ehemalige Direktor des Internationalen Währungsfonds (IWF), hat 2008 die Finanzmärkte als „Monster“ bezeichnet, der Großinvestor Warren Buffett hielt Finanzderivate schon 2003 für „Massenvernichtungswaffen“. Dazwischen lag die Bankenkrise mit der Pleite der Investmentbank Lehman Brothers als Menetekel. Der Dokumentarfilmer Andres Veiel, seit seinem Film zur Ermordung von Deutsche-Bank-Vorstandssprecher Alfred Herrhausen („Black Box BRD“, 2001) mit der Bankenszene vertraut, hat mit zwanzig ehemalige Akteuren gesprochen und daraus den Theatertext „Das Himbeerreich“ gemacht, den er Anfang 2013 für Bühnen in Stuttgart und Berlin selbst inszenierte.Die Kritik fand das Stück eher mittel. Franz Dobler fühlte sich in der „FAZ“ an Kabarett-Truppen seiner Kindheit erinnert, die uns „Feuilletonheinzen“ erläutern, was man „auf den Wirtschaftseiten noch nie kapiert“ hatte, und lobte die „komplizierten Satzgebilde, die wie eine Motorsäge durch unsere comedyverseuchte Sprachwelt schneiden“. In der Tat ist es eine erstaunliche Beobachtung, dass auch gegenwärtig Kabarettisten wie Volker Pispers oder Max Uthoff und Claus von Wagner – die letzteren beiden haben jüngst die ZDF-Satirereihe „Die Anstalt“ übernommen – das Finanzprodukt „umlagefinanzierte Altersrente“ plausibler und reflektierter erklären können als die Politik und der sogenannte Qualitätsjournalismus.
Für die knapp einstündige Hörspielfassung von „Das Himbeerreich“ – einer Koproduktion von Rundfunk Berlin-Brandenburg (RBB) und Hessischem Rundfunk (HR) – hat sich Regisseur Ulrich Lampen der Bankersätze angenommen, die Andres Veiel aus seinen Gesprächen herausdestilliert und anonymisiert hat. Keiner seiner Gesprächspartner wollte erkannt werden, weil das möglicherweise ihren vertraglich vereinbarten Verschwiegenheitspflichten widersprechen und Schadenersatzforderungen oder den Entzug ihrer immer noch vorhandenen Privilegien zur Folge haben könnte. Doch das Destillat weist nicht unbedingt die analytische Schärfe auf, die man von Äußerungen aus der Innenperspektive der Macht erwarten könnte. Die Selbstreflexion bezieht sich tatsächlich in erster Linie auf das Selbst der Akteure. Manchmal mit mehr, oft aber mit weniger selbstkritischen Tönen.
Gereinigt sind die Sätze von Sprachbildern und Metaphern, die in den hochformalisierten Geschäftsabläufen nur wenig Erklärungspotenzial haben, will man nicht in die Apokalypse-Schublade („Massenvernichtungswaffen“) greifen. Ein Bild allerdings prägt sich ein, nämlich dass die Investmentbanker gegen ihren Durst Salzwasser trinken. Das verschlimmert den Durst natürlich, der nur mit noch mehr Wasser gestillt werden kann. Beides führt früher oder später zum Exitus, entweder dem des Bankensystems oder dem seiner Umwelt, der sogenannten Realwirtschaft. Anstatt aber den Strick noch zu verkaufen, an dem man sie aufhängt, wie es sich Lenin erhoffte, wetten die Akteure an den Finanzmärkten auf den Zusammenbruch und werden auch dann noch davon profitieren. „Der Feind wurde Struktur, deren Teil man selber ist“, schriebt Hans Dieter Schütt 100 Jahre nach Lenin im „Neuen Deutschland“ zur Berliner Theateraufführung von „Das Himbeerreich“.
Veiels Text bildet strukturelle Vorgänge ab, die im Prinzip keine Menschen mehr brauchen. Entscheidungen sind an die Algorithmen von Maschinen ausgelagert, die sich im Hochfrequenzhandel von jeglicher realwirtschaftlichen Funktion emanzipiert haben: „Da kann kein Mensch mehr eingreifen, das ist Natur“, sagt die Frauenfigur in dem Stück – auch sie ist ein Amalgam aus mehreren Gesprächspartnern Veiels. Natürlich ist die Folgerung der Frau ein Fehlschluss, der freilich einen ohnmächtigen Fatalismus illustriert: Gegen Naturgesetze empört man sich nicht. „Was ist das überhaupt, Empörung?“, wird im Stück gefragt und prompt beantwortet: das morphologische Korrelat elektrischer Entladungen von Nervenzellen in bestimmten Hirnregionen. So what?
Eigentlich ist die Kunstform des Hörspiels prädestiniert, aus einer strukturellen Analyse einen erzählerischen Zusammenhang zu machen. Es kann von der Anwesenheit eines Schauspielers auf einer Bühne abstrahieren und sich auf Stimme und Inhalt konzentrieren. Hier funktioniert das aber schlechter, als es eigentlich möglich wäre (besser macht es Stefan Weigl in seinem Hörstück „Stripped – Ein Leben in Kontoauszügen“; vgl. FK 22/04). Andres Veiel setzt unnötigerweise auf das Konzept, seine Text auf Rollen und Figuren zuzuschreiben, wobei man im Hörspiel – dem Medium der körperlosen Stimmen – auch wegen der Gleichförmigkeit der Charaktere die Figuren leicht verwechseln kann. Trotz des erstklassigen Ensembles mit Wolfgang Condrus, Hans-Peter Hallwachs, Wolfram Koch, Christian Redl, Martina Gedeck und Lilith Häßle.
Selbst die immer wieder in das Stück eingestreuten biografischen Details eines Lebensweges in einer Welt außerhalb der abgeschotteten Bankentürme und gepanzerten Limousinen wirken wie unnötig nachgeschobene Belege, dass es sich bei den Figuren um echte Menschen handelt. Natürlich sind das Menschen, sie sind nur als solche im System der Finanzmärkte nicht relevant und schon gar nicht als aus dem Himbeerreich vertriebene Funktionäre. Sie sind nur eine notwendige, aber keine hinreichende Begründung für die fatal agierenden Finanzmärkte, ähnlich wie die produzierende Realwirtschaft, in deren Dienst die Finanzmärkte angeblich stehen. Gebraucht aber werden Menschen wie auch produzierende Unternehmen noch, irgendwer muss die Zinsen ja bezahlen und die Schulden tilgen. Denn Geld arbeitet nicht.
Jochen Meißner – Funkkorrespondenz 20/2014
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