Rasante und boulevardeske Science-Fiction-Komödie

Mariola Brillowska: Die Tetris. Eine Hörspielzukunftsvision

NDR Kultur, 07.11.2022, 20.00 bis 21.00 Uhr

Im Rahmen der Hörspielreihe „2035 – die Zukunft beginnt jetzt“ entwickelt die polnisch-deutsche Künstlerin und Hörspielmacherin Mariola Brillowska ihre Hörspielzukunftsvision, in der die Menschheit seit dem „totalen Lockdown“ auf ihre mobilen Wohnboxen beschränkt ist. Ausgang gibt es nur am TIF, dem Tag der Impfstofffindung.

Als sie 15 Jahre alt wurde, kam für Lulu der TL, der „Totale Lockdown“. Seitdem durften sich nur noch Frauen mit Kindern in „sterilen, virenfreien Sauerstoffaußengroßräumen“ treffen. Da war für die lebenshungrige Lulu die Entscheidung für eine künstliche Befruchtung naheliegend. Inzwischen sind ihre Kinder, die Zwillinge Kino und Koko (Bela Brillowska und Minna John), so alt wie Lulu (Gloria Brillowska) zu Beginn des Lockdowns, nämlich 15 Jahre, und pubertieren heftig. Sie verlassen auch schon mal unerlaubt die mobilen Wohnboxen, in die die gesamte, ausschließlich weibliche Bevölkerung beschränkt ist. Lediglich am TIF, dem Tag der Impfstofffindung, dessen Abkürzung absurderweise englisch (Ti-Ai-Ef) ausgesprochen wird, darf man raus.

Doch weil wir uns in Mariola Brillowskas 55-minütigem Stück „Die Tetris“ in einer Hörspielzukunftsvision befinden, mischt sich die Autorin und Regisseurin in die Handlung ein und gibt ihrer minderjährigen, alleinerziehenden Mutterfigur, die unter postpubertär-traumatischer Störung leidet und sich deswegen durchgehend in einer systematischen Jugendteleverhaltenstherapie befindet, Sprechanweisungen.

Schon die geballten Adjektivkonstruktionen und die ellenlangen Komposita erfordern – nein besser erzeugen – jene gespannte Aufmerksamkeit beim Hören, die erforderlich ist, um den ganzen Humor und die Pointen mitzubekommen. Denn das Sprechtempo der Akteure rasant zu nennen, wäre ein Untertreibung. Selbst OMA Pola (Iris Minich), eine 60 Jahre alte, ehemalige Wrestlerin, die für „hosting, allround support und seelischen Beistand“ zuständig ist, macht da mit. OMA steht übrigens für „Older Managing Agent“ und sie übernimmt die Funktion, die in früheren Zeiten eine Oma erfüllt hätte – die Teenies verwöhnen und sie auf die Erdoberfläche zum Knutschen mit den SARS-Boys („Systemrelevante Agenten zum Recycling wertvoller Schlammgebiete“) schicken.

Denn da unten auf der Erde geht es zu „Schlammghettolectrodub“ oder „Retroeurodiscogrime“ richtig ab und da ist es viel interessanter als in der Verbotsgesellschaft der Tetris, die aus schwebenden Plattformen über der verschlammten postapokalyptischen Erde besteht. Außerdem gibt es auf der Erde noch Männer – darunter den Samenspender und Erzeuger von Kino und Koko namens Leon (Günter Reznicek). Der wird von seinen Töchtern verbotenerweise auf die Tetris geschmuggelt und als Frau verkleidet. So wird das Science-Fiction-Genre um Elemente der Boulevard-Komödie ergänzt.

Absurditäten und Rückbezüge

Absurde Akronyme, vermeidbare Abkürzungen, überflüssige Anglizismen, ironischer Tech-Talk, High-Tech-Gagdets, ein futuristisches Setting und popkulturelle Rückbezüge sind die Hauptzutaten für eine gelungene Science-Fiction-Geschichte. Und eine bedeutungsvoll raunende Kommentarstimme (natürlich die der Autorin Mariola Brillowska) darf auch nicht fehlen. Wenn man diese dann mit der Spielfreude der Familie Brillowska anrichtet, dann wird daraus ein extrem unterhaltsames Stück, das die Konventionen des SF-Genres zugleich erfüllt und parodiert.

Nebenbei wird noch Tetris nach seinem lateinischen Ursprung durchdekliniert und der Jugendjargon der Teenie-Zwillinge kommt so öffentlich-rechtlich rüber, dass man die anbiedernde Peinlichkeit, die niemand über 15 „cringe“ nennen dürfen sollte, regelrecht genießen kann. Und das überflüssige Wissen, dass Olivia Newton-John nicht in „Saturday Night Live“ sondern nur in „Grease“ an der Seite von John Travolta gespielt hat, wird der Boomer-Generation (ab 50 plus) ins Gedächtnis gerufen und so an die Jugend des Jahres 2035 weitergegeben. Man hat ja schließlich einen Bildungsauftrag.

Günter Reznicek, der für die Komposition verantwortlich ist, hat ein paar schöne Songs als Zwischenspiele komponiert, zu denen die Zwillinge auch rappen dürfen, beispielsweise dass sie gerne „independent Frauen mit Biografie“ werden würden.

„Die Tetris“ ist der Beitrag des Norddeutschen Rundfunks zum zehnteiligen Hörspielprojekt „2035 – die Zukunft beginnt jetzt“ von ARD und Deutschlandradio, in dem von zehn verschiedenen Autoren unterschiedlichste Zukunftsvisionen umgesetzt werden. Zusammengehalten wird die Reihe von einem Presenter, dem Wissenschaftsjournalisten Niklas Kolorz, der mehr oder weniger überflüssige bis nervige An- und Abmoderationen zu jedem Stück eingesprochen hat. Von Kolorz, der als doppelter Preisträger des Grimme-Online-Awards 2021 (Jury- und Publikumspreis) auf YouTube 446.000 und auf TikTok 1,4 Millionen Follower hat, erhofft man sich offenbar Reichweite. Er bewirbt das Projekt „2035“ aber weder auf seiner Website noch auf seinen anderen Kanälen.

Jochen Meißner – KNA Mediendienst, 15.12.2022

Begleitmaterial zur Serie „2035 – Die Zukunft beginnt jetzt“

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