Radio, multimedial
Andreas Bick: Bay Area Disrupted. Feature
WDR 3, Mo 27.10.2014, 23.05 bis 0.00 Uhr
„Disruptiv“ ist ein Buzzword gegenwärtiger Diskussionen um technologische Veränderungen in der Welt. Ähnlich wie die „Dystopie“. Ursprünglich kommen beide Begriffe aus der biologischen Evolutionstheorie bzw. aus der Medizin. Die disruptive Selektion bezeichnet das Auftreten unüblicher Phänotypen, wenn die üblichen durch erhöhten evolutionären Druck, von Krankheiten oder von Fressfeinden bedroht sind. Der Begriff der Dystopie, der heute weitgehend als Synonym für negative Utopien gebraucht wird, bezeichnet in der Medizin die Fehllagerung von Organen. Nimmt man noch das Buzzword „Gentrifizierung“ hinzu, hat man das Dreieck, in dem sich Andreas Bicks rund 55-minütiges Feature „Bay Area Disrupted“ abspielt.
Die Recherchen für sein Stück, das als Teil des WDR-3-Schwerpunkts „Made in USA“ gesendet wurde, führten Bick an die Westküste nach San Francisco und auf die gegenüberliegende Seite der Bucht nach Oakland. Während die Stadt San Francisco sich langsam zu einem Vorort des Silicon Valley entwickelt, in der die Immobilienpreise durch die Decke gehen, so dass sich selbst Ärzte und Anwälte kaum leisten könne, dort zu wohnen, herrschen in Teilen Oaklands dystopische Verhältnisse wie in der Dritten Welt. Andere Viertel Oaklands unterliegen auch schon dem Zyklus der Gentrifizierung. Erst kommen die (weißen) Künstler und verdrängen die alteingesessene Bevölkerung, dann kommen die hippen Leute mit Geld und verdrängen ihrerseits die Künstler.
In den USA geht es dabei immer noch einen Tick drastischer zu als im alten Europa. Interviewpartnerin Candace Roberts hat gar keine Wohnung mehr, sondern wohnt als Hundesitterin bei den Leuten, deren Tiere sie in den Ferien ausführt. Zwischen den Jobs übernachtet sie in ihrem Van. Eine bessere Metapher für Ortlosigkeit und disruptiven Selektionsdruck könnte man kaum erfinden.
Ein anderes Verkehrsmittel zieht die besondere Abneigung der Bewohner der Bay Area auf sich: die Google-Busse. In ihnen werden die hochbezahlten Angestellten des Internet-Konzerns mit allen Annehmlichkeiten zur Arbeit gefahren, während öffentliche Infrastruktur verkümmert. Die Sharing Economy des Teilens – an der sich naturgemäß nur die beteiligen können, die in ihren gentrifizierten Vierteln etwas zu teilen haben, ist der Endpunkt der Ökonomisierung aller Lebensbereiche und aller Ressourcen.
Die Ideologie der neuen disruptiven Industrien ist die der „kreativen Zerstörung“, die auf den Ökonomen Joseph Schumpeter zurückgeht. Gegenwärtig entwickelt sich aus dieser Ideologie ein Plattformkapitalismus, der die bestehenden Verhältnisse nicht etwa unterminiert, sondern bestätigt: Damit sich nichts ändert, muss sich alles ändern. Ob im Transportgewerbe durch die Mitfahrplattform Uber oder im Handel mit realen und virtuellen Gütern durch Amazon. Was die Bay Area besonders macht, ist die ursprüngliche Verbindung von Hochtechnologie- und Gegenkultur, die sich in den 1960er Jahren an der Stanford University entwickelt hat. Dass einst¬mals gegenkulturelle „Burning-Man-Festival“ in der Wüste von Nevada ist die gegenwärtige Ausprägung einer ambivalenten Gefühlslage der Akteure in den neuen Ökonomien. Man muss es sich eben leisten können, an diesem vorgeblich nicht-ökonomischen Festival teilnehmen zu können.
„Bay Area Disrupted“ erzählt aus verschiedenen Perspektiven aus dem Labor gesellschaftlicher Entwicklung und funktioniert deswegen nicht nur als Feature, sondern auch als multimedial erzählte Reportage im Netz. Andreas Bick und Robert Rack haben diese Online-Version mit dem Programm Pageflow erstellt, das der WDR als freie Software zur Verfügung stellt und das als Werkzeug für digitales Storytelling dient. Wie in seinen „Zehn Thesen zur Zukunft des akustischen Erzählens“ (vgl. FK 29/13) programmatisch formuliert und im Web- und Radioprojekt „ – Wir sind die Zukunft der Musik“ (vgl. FK 42/12) bzw. www.pasted-radio.de (vgl. FK 13/13) realisiert, bedient sich Bick der audiovisuellen Möglichkeiten des Netzes in der Verbindung von (Bewegt-)Bild, Ton und Schrift.
Das funktioniert beim vorliegenden Stück fast besser als im Radio. Was nicht in erster Linie daran liegt, dass die Stimmen Gesichter bekommen und die Orte Konturen, sondern daran, dass die kleinteilige Art des Erzählens, die Sprünge zwischen den einzelnen Geschichten, hier fassbarer werden als im linearen Radio und so einen „akustischen Blick“ rund um die Bay Area ermöglichen. Eine disruptive Technologie, die das Hörspiel oder das erzählerische Feature ablösen wird, ist das digitale Erzählen mittels Pageflow oder ähnlicher multimedialer Content-Management-Systeme (CMS) nicht; doch für bestimmte Themen und narrative Strukturen bietet es Möglichkeiten, mit denen das Radio über sich selbst hinausgehen kann.
Jochen Meißner – Funkkorrespondenz 45/2014
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