Plädoyer für den Fehler im System
Das 19. Hörspielforum NRW in Köln
Schon der begnadete Fluxus- und Medienkünstler Nam June Paik wusste: „When too perfect, lieber Gott böse!“ Nicht erst seit der Fehler derart nobilitiert wurde, ist er integraler Bestandteil jedes künstlerischen Prozesses und manchmal auch des Kunstwerkes selbst. Was im Hörspiel schon durch die Sicherheitsschleusen im Kopf des Autors, der Dramaturgie, des Regisseurs, des Tontechnikers und der Marketingabteilung des Hörverlags gegangen ist, ist schlimmstenfalls von „nichtiger Korrektheit“. Eine Garantie für ein gelungenes Werk ist Fehlerfreiheit nicht.Das von der Film- und Medienstiftung NRW zum 19. Mal veranstaltete Hörspielform NRW in Köln (11. bis 13. Oktober) widmete sich dem Phänomen „Kunstfehler“.
Man kennt den Begriff zunächst aus dem Bereich der Medizin. Wer als Arzt nicht nach den Gesetzen seiner Kunst (den lege artis) verfährt, riskiert nach einem Kunstfehler Regressforderungen. Eine der Referentinnen beim Hörspielforum, Jutta Liebau, Chefärztin in einer Klinik für Plastische und Ästhetische Chirurgie, setzt deswegen auf eine hochformalisierte Kommunikation, ein „Critical Incident Reporting System“ (CIRS), als Frühwarnsystem, um Fehlerquellen zu identifizieren. Gegen Patienten mit einer Körperwahrnehmungsstörung (Dymorphophobie), die sich im Extremfall in ihr Puppenvorbild „Barbie“ verwandeln lassen wollen, hilft das aber auch nicht. Da wäre schon die Behandlung der Fehler und solche Fehler kämen bei ihr nicht vor.
Kommunikation war auch das Stichwort für den Systemtheoretiker Dirk Baecker, der leider erst nach Jutta Liebau ein paar definitorische Elemente einführte (Hier der Vortrag zum nachlesen). Denn Fehler lassen sich nur in stabilen Systemumwelten beobachten, in der beispielsweise Körperteile als fehlerhaft empfunden werden können, wenn sie von einer angeborenen Normabweichung betroffen sind. In turbulenten Systemen, in denen Handlungen das System selbst beeinflussen, sind keine Fehler möglich. Solche Systeme nennt man komplex, weil in ihnen heterogene Faktoren die Ergebnisse beeinflussen, die sich wissenschaftstheoretisch nicht mehr mit den klassischen Instrumenten der Kausalität oder der Statistik beschreiben lassen. Der Mensch (eine Bezeichnung, die Systemtheoretiker nur sehr widerstrebend verwenden) ist solch ein wandelndes Komplexitätsbündel, Kunst und Medien sind es natürlich auch. Bestenfalls integriert man den Fehler ins System und fasst den Fehlermacher als Sensor für die Unstimmigkeiten zwischen System und Mensch auf.
Im Werk des jungen Medienkünstler Kim Asendorf ist die Integration des Fehlers am weitesten fortgeschritten, denn er arbeitet mit vermeintlich zufälligen, in Wahrheit aber programmtechnisch provozierten Fehlern in Hard- und/oder Software, sogenanntem Glitch (das Wort ist ein Neologismus aus dem Englischen, aus „goof“ für Panne und „hitch“ für Störung). Das führt zu wunderbaren Artefakten, wenn man sie denn so virtuos programmieren kann wie Kim Asendorf. Hier geht es zu seinem Youtube-Channel.
Was Versteinerung verhindert
Die Fehlerstrukturen im Hörspiel analysierte der Literaturwissenschaftler Johannes Ullmaier, neben Michael Lentz, Paul Plamper, Tim Staffel und Schneider TM einer der fünf Seminarleiter des Hörspielforums, in dem es zudem um Themen ging wie Stimme, Schnitt, Inszenierung und Soundarbeit. Ullmaier (u.a. Herausgeber der Zeitschrift Testcard) sprach in dem Workshop „Fehler-Feedback“ über das Strukturelle. Wobei man sich heutzutage in einem Dilemma befindet. Seit der Abschaffung des regelpoetischen Kanons vor über 200 Jahren mit dem Sturm und Drang gibt es in der Kunst eigentlich keine Fehler mehr. Aber natürlich gibt es sie doch. Die Bestandteile der klassischen Rhetorik (inventio, dispositio, elocutio, actio) verweisen auf die Orte, an denen einiges schiefgehen kann. Angefangen vom Bekenntniszwang, dem der Autor widerstehen sollte, über die Hypnose durch das Material, der er sich nicht unterwerfen sollte, bis zur Tonstudio-Trance, die sich im Ergebnis oft nicht mitteilt, was manchmal mit einer Erklärekstase einhergeht, die jeden Hörer nervt. Nie gut ist auch der Gehaltsverzicht, der hier den Verzicht auf das wesentliche Element des Kunstwerkes bedeutet, aber auch sonst ein Fehler ist.
Sind diese Fehlerquellen erst einmal erkannt, kann man sich auf die Suche nach den Fehlern zweiter Ordnung machen, jenen produktiven Kunst-Fehlern (hier mit besonderer Betonung auf der ersten Silbe), die die Unstimmigkeit zwischen Werk und Welt auf überraschende Weise erhellt. Der Fehler als solcher ist dabei immer singulär, ein Systembruch. Wenn er aber erfolgreich ist, sozusagen „funktioniert“, kann er schnell zur Masche werden und ein neues System ausdifferenzieren, das wieder durch neue Fehler transformiert werden kann/sollte/muss. Das System des öffentlich-rechtlichen Radios bildet die Umwelt für das System Kunstproduktion, das ihm als irritierender Fehlergenerator dienen könnte, indem es seine Versteinerung verhindert und es so stabilisiert und am Leben erhält.
Jochen Meißner – Funkkorrespondenz 48/2013
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