Perspektivwechsel – Wie man einen Schulbuchklassiker als Hörspiel inszeniert
Annette von Droste-Hülshoff / Rimini Protokoll; Die Judenbuche
WDR 3, Sa, 16.12.2023, 19.05 bis 20.00 Uhr
Wer in der Schule unter der altertümlichen Sprache von Annette von Droste-Hülshoffs Novelle „Die Judenbuche“ gelitten hat, sollte sich die Hörspielbearbeitung von Rimini Protokoll anhören. Diese legt die aktuelle Dimension des Werkes frei.
„Wenn du dich diesem Orte nahest, so wird es dir ergehen, wie du mir getan hast“, ist in die Rinde der Buche geritzt, unter der der Geldverleiher Aaron erschlagen gefunden wurde, und die seitdem die „Judenbuche“ genannt wurde. In Annette von Droste-Hülshoffs 1842 erschienener Novelle ist der Spruch in hebräischen Buchstaben gedruckt und wird erst im letzten Satz übersetzt. Helgard Haug und Daniel Wetzel von der Theater- und Performancegruppe Rimini Protokoll haben „Die Judenbuche“ (ARD Audiothek) vor Ort an der Burg Hülshoff als „16 Szenen für einen Wald“ installiert und jetzt zum Hörspiel gemacht.
Es ist eine Re-Lektüre von Droste-Hülshoffs Werk – und ebenso wie hier die „goldene Regel“ der praktischen Ethik („Was Du nicht willst, das man Dir tu …“) in umgekehrter Form erscheint, inszeniert auch das 54-minütige Hörspiel einen Perspektivwechsel. Genauer gesagt werden gleich mehrere Perspektiven eingenommen, indem der Text der Novelle auf seine Figuren verteilt wird, die als Ich-Erzähler in die Rollen ihrer Figuren schlüpfen und sie zugleich kommentieren. Außerdem ist der Text vom Präteritum ins Präsens gesetzt und entwickelt so eine Dynamik.
Figuren und Buchstaben
Droste-Hülshoff (1797-1848) hat ihre auf einer wahren Begebenheit basierende Geschichte in das Dorf B. im „gebirgichten Westfalen“ verlegt. „B“ wie Beispiel oder Besonderheit, ergänzen Haug und Wetzel und kürzen, anders als Droste-Hülshoff auch ihre Figuren mit Buchstaben ab, um den prototypischen Charakter zu unterstreichen. Denn im Dorf, in dem „die Begriffe der Einwohner von Recht und Unrecht einigermaßen in Verwirrung geraten“ waren, hatte „sich neben dem gesetzlichen ein zweites Recht gebildet, ein Recht der öffentlichen Meinung, der Gewohnheit und der [durch Vernachlässigung entstandenen] Verjährung.“
Man kann sich solche Dörfer heute wieder problemlos vorstellen. In B. existieren zwar noch institutionelle Strukturen, aber die werden eher nachlässig und desinteressiert gepflegt. F., Friedrich Mergel, geboren von der M., Margreth, deren Mann sich totgesoffen hat, wird als zwölfjähriges Kind von seinem Onkel S., Simon Semmler, quasi adoptiert. Dieser Simon gehört zu den „Blaukitteln“, die in Wäldern um B. herum Holzdiebstahl („Waldfrevel“) begehen. Als der Oberförster Brandis erschlagen wird („Es war die Axt, die man in dem Schädel des Oberförsters eingeklammert gefunden hatte“) wird Friedrich verdächtigt und sein Alibi eher murrend zur Kenntnis genommen.
Aus dem Elend in die Heimat
Erwachsen geworden, wird er von dem Juden Aaron öffentlich gedemütigt, der sein Geld für eine silberne Uhr zurückhaben will. Kurz darauf wird Aaron erschlagen aufgefunden und Friedrich flieht zusammen mit seinem Freund, dem Schweinehirten Johannes Niemand, um erst nach 28 Jahren unter dem Namen seines Freundes aus dem Elend wieder in die Heimat zurückzukehren. Dass zwischenzeitlich ein anderer „Blaukittel“ den Mord an Aaron gestanden hat, ist nicht weiter von Belang. Friedrich hängt sich in der Judenbuche auf und wird auf dem Schindanger verscharrt. Dass der Mord nicht in Vergessenheit geraten ist, liegt an der jüdischen Gemeinde, die die Buche gekauft und die Inschrift angebracht hat.
Helgard Haug und Daniel Wetzel haben Droste-Hülshoffs Sittengemälde mit einem Dutzend Sprecherinnen und Sprechern inszeniert. So bleibt die Vorlage als literarischer Text erkennbar, erhält aber eine Vielstimmigkeit, die nicht über ihn übergestülpt wird, sondern aus ihm hervorgeht. Der Ausgangstext wird durch den Wechsel der Perspektiven oft verdoppelt und manchmal chorisch gesprochen. Seine Sprecher sind dabei gezwungen sich lesend mit dem Text in ein Verhältnis zu setzen – und das gelingt hörbar.
Normalität des Antisemitismus
Den Auftakt des Stückes erzählt ein angehender Rabbiner, Levi Israel Ufferfilge, der von seinen Erfahrungen mit Antisemitismus berichtet. Nachdem am 7. Oktober die palästinensische Terrororganisation Hamas Israel überfiel, wurden in Deutschland von Juden bewohnte Häuser mit Davidsternen markiert. So bekommt die Normalität des Antisemitismus des 19. Jahrhundert seine gegenwärtige Gestalt. Ufferfilge übernimmt am Schluss auch die Rezitation und Übersetzung der hebräischen goldenen Regel, wobei er auf die falsche Vokalisation hinweist, also die Kennzeichnung der fehlenden Vokale durch Zusatzzeichen in der hebräischen Schrift.
Literatur wird im Hörspiel sonst oft auf den Plot reduziert und mit dramatisierten Dialogen angereichert. Haugs/Wetzels Bearbeitung dieses schulbuchnotorischen Textes, an dessen Vermittlung sich Deutschlehrer oft die Zähne ausbeißen, ist daher eine kaum zu überschätzende Leistung. Wo sonst auf die Psychologie der Figuren oder den True-Crime-Charakter des Textes verwiesen wird, gelingt es Rimini Protokoll die literarische wie die politische Dimension des Textes offenzulegen, ohne sie platt zu aktualisieren.
Jochen Meißner – KNA Mediendienst, 14.12.2023
Schreibe einen Kommentar