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Ein Rückblick auf das Hörspiel- und Radiojahr 2012

Seit 1977 wählt eine dreiköpfige Kritikerjury im Auftrag der Deutschen Akademie der Darstellenden Künste das „Hörspiel des Monats“, zu dem alle öffentlich-rechlichten Rundfunkanstalten monatlich je eine Neuproduktion einreichen können. Seit 1987 wird aus den 12 Hörspielen des Monats das „Hörspiel des Jahres“ gewählt. Für das Jahr 2012 war das „Orphée Mécanique“ von Felix Kubin (vgl. auch FK 4/13). Die Preisverleihung und Vorführung des Stücks fand am 16. Februar im Frankfurter Literaturhaus statt. Die Jury bildeten im vergangenen Jahr die Literaturwissenschaftlerin und Kuratorin Berit Schuck und die Hörspielkritiker Rafik Will und Jochen Meißner. Im folgenden Text blickt Jochen Meißner auf das Hörspiel- und Radiojahr 2012 zurück. -FK-

 

Als „das fulminante Finale eines eher hasenfüßigen Hörspieljahres“ hat Stefan Fischer, der Hörspielkritiker der „Süddeutschen Zeitung“, die „Neuschwabenland-Symphonie“ von Andreas Ammer und FM Einheit bezeichnet (Ursendung am 17. Dezember 2012 auf WDR 3). Nun ja, da kann man geteilter Meinung sein. Beispielsweise könnte man der Ansicht sein, dass die Film-Nazis hinterm Mond aus dem Kinofilm „Iron Sky“, der im April angelaufen war, komischer waren als die Hörspiel-Nazis im antarktischen Neuschwabenland. Oder man könnte einwenden, dass etwa das Hörspieljahr 2001 weitaus hasenfüßiger war als das Jahr 2012. Damals nahm nämlich das Deutschlandradio Kultur das Requiem „Crashing Aeroplanes“ von Ammer und FM Einheit vom Sender. Später wurde das Stück mit dem renommierten Hörspielpreis der Kriegsblinden ausgezeichnet.

Mutig ist man auf der Leitungsebene des öffentlich-rechtlichen Hörfunks immer dann, wenn es darum geht, sich ins eigene Fleisch zu schneiden. Der Hessische Rundfunk (HR) beispielsweise stellte seine gedruckte Hörspielbroschüre ein (vgl. FK 37/12) und folgte damit dem Mitteldeutschen Rundfunk (MDR). Aber so richtig viel Anerkennung seitens der Printmedien hat diese Sparmaßnahme auch nicht bekommen. Für den Erhalt des ebenfalls bedrohten Quartalshefts des Deutschlandradios hat sich vorsorglich die Initiative www.freunde-der-hoerspielbroschuere.de gebildet, Motto: „Gutes gut finden“.

Immunisierte Programmverantwortliche

Nicht besonders ängstlich waren auch die Programmverantwortlichen des Westdeutschen Rundfunks (WDR), die die inzwischen fünfte Reform von WDR 3 auch gegen den erheblichen Widerstand der Initiative „Die Radioretter“ durchdrückten. „Uns muss niemand retten“, verbat sich SWR-2-Wellenchef Johannes Weiß im Rahmen der von „epd medien“ angestoßenen Kulturradiodebatte derlei Einmischung und WDR-Hörfunkdirektor Wolfgang Schmitz sah an gleicher Stelle das Radio als „unaufdringlichen Begleiter“, der immer die Kriterien Akzeptanz und Relevanz im Blick haben solle. Dass Publikum und Hörerwille gerne gefiltert durch die eigene Marktforschung wahrgenommen werden, immunisiert gegen alles, was nicht ins Bild passt, wie etwa die fast 20 000 Unterschriften unter eine Online-Petition der „Radioretter“. Die simple Weisheit, dass jeder Sender für sein Publikum selbst verantwortlich ist, muss wohl immer wieder mühsam von den Ablagerungen immer wieder neuer Marketingmoden befreit werden.

Ein Hörspiel passte zur Kulturradiodebatte wie die Faust aufs Auge, nämlich das Stück „Das Radio ist nicht Sibirien“ von Rafael Jové (vgl. FK 21-22/12), das im Vorjahr an der Weimarer Bauhaus-Universität entstanden ist und dann seinen Weg durch die ARD-Anstalten gemacht hat. Die Produktion ist eine genaue Parodie jener angeblich hörerzentrierten Kulturradioprogramme, voller homogenisierter Sendungen, Verzeihung: Formate, die niemals enden dürfen, sondern von Übergabe zu Übergang ineinander diffundieren. Überwölbt werden alle Formate von dem, was man in einschlägigen Kreisen gerne den „Servicegedanken“ nennt – Radio als Dienstleistung, das herabsinkt zu einem „ebenso entbehrlichen wie gleichförmigen Begleitmedium“, wie Christoph Buggert, ehemals Wellenchef von HR 2 Kultur, es einmal auf den Punkt brachte. Wie jedes gute Kunstwerk verändert Jovés Hörspiel die Wahrnehmung der Welt. Nach seiner nur wenig überspitzten Satire hört man nicht etwa WDR 3, sondern WDR 5, die Wortwelle, auf die sich der Westdeutsche Rundfunk einiges einbildet, mit ganz anderen Ohren. „Das Radio ist nicht Sibirien“ war denn auch eines der prominentesten Stücke, was von der ursendenden Anstalt (in diesem Fall Radio Bremen) nicht für das Hörspiel des Monats eingereicht worden war.

Alle ARD-Rundfunkanstalten und das Deutschlandradio können pro Monat eine Neuproduktion für den von der Akademie der Darstellenden Künste ausgelobten Preis einreichen. Bei zehn Anstalten wären also insgesamt 120 Einreichungen möglich; am Ende des vergangenen Jahres waren es genau 100. Eine jährlich wechselnde dreiköpfige Jury entscheidet über das Hörspiel des Monats und wählt aus den 12 Hörspielen des Monats am Ende das Hörspiel des Jahres. Kleinere Sendeanstalten schaffen kaum eine Ursendung pro Monat und können sich auch kaum Übernahmen teurerer Produktionen leisten. Schleichend findet so eine Abschaffung des Rundfunkföderalismus statt. Im Sommer fallen bei der zum „Radiofestival“ nobilitierten Gleichschaltung der Kulturwellen noch zusätzlich Hörspieltermine weg.

Tiger mit Hasenfüßen

Eine weitere mutige Tat kündigte das Deutschlandradio an, das in seinem Programm Deutschlandfunk eine „Wortnacht“ einführen will. Für einen Sender, der seine besten Produktionen im Schwesterprogramm Deutschlandradio Kultur gerne um 0.05 Uhr versendet und damit, so Alfred Treiber, Chef des reichweitenstärksten österreichischen Kulturprogramms Ö1, „seines eigenen Reichweitenunglücks Schmied ist“, wäre das eine konsequente Fortsetzung seines Profils.

Zweimal in Folge hat das dreistündige monothematische Format „Die lange Nacht“ (freitags und samstags auf Deutschlandradio Kultur und im Deutschlandfunk) den Deutschen Radiopreis gewonnen. Man weiß also in Köln und Berlin, wie man auch lange Strecken erfolgreich bespielen kann. Doch für was will man sich entscheiden, wenn die „Wortnacht“ im Lauf dieses Jahres auf Sendung gehen soll? Auf in ein halbstündliches Nachrichtenraster eingepasste Wiederholungen aus dem Tagesprogramm! Das hieße, für eine vierstündige Programmfläche, mit der man machen könnte, was man will, die mit Abstand fantasieloseste Lösung zu wählen. Außerdem erinnert das kleinteilige Format stark an die ARD-Infonacht. Eine Ähnlichkeit, die deshalb schon im Vorfeld heftig bestritten werden muss. So springt man als Tiger ab und landet auf seinen Hasenfüßen.

Wenn man denn die Sendeschemata des nationale Hörfunks reformieren möchte, könnte man zum Beispiel im Deutschlandfunk dem Hörspiel am Dienstag einen vollständigen 55-minütigen Sendeplatz geben und nicht die 50 Minuten von 20.10 bis 21.00 Uhr, was regelmäßig dazu führt, dass Hörspielübernahmen gekürzt werden müssen. Oder man könnte sich überlegen, dass man im Deutschlandradio Kultur nachts etwas flexibler sein könnte und nicht unbedingt um Punkt 1.00 Uhr Nachrichten senden muss, sondern die zum Beispiel auch im Anschluss an ein längeres oder etwas länger anmoderiertes Hörspiel oder Feature senden könnte.

Und zum dritten könnte man beim Deutschlandradio Kultur die Nachtschiene nutzen, um lange nicht mehr gehörte Hörspiel- und Feature-Schätze aus den Archiven zu heben und zu senden, Produktionen mithin aus einer Zeit, als die Ideologie der Durchformatierung noch nicht die Konfektionierung aller Sendungen auf 54 Minuten und 30 Sekunden erforderte. Und sage keiner, zwischen 1.00 und 5.00 Uhr nachts höre sowieso niemand Radio. Das mag zwar stimmen, aber wer Interesse an diesen Programmen hat, wird locker mit dem Deutschlandradio-Rekorder oder anderen Online-Rekordern umgehen und die Programme einfach aufzeichnen. Denn das Bedürfnis nach „zeitsouveräner“ Nutzung von Medieninhalten wird ja durch eine Programmgestaltung massiv gefördert, die die interessantesten und relevantesten Sendungen an möglichst dunklen Stellen des Programmschemas versteckt

Am Rande bemerkt: Nach 50 Jahren verfallen die Leistungsschutzrechte aller an einer Hörspielproduktion Beteiligen (Schauspieler, Regisseure etc.). Wer noch zu honorieren ist, sind die Urheber, die Autoren und Komponisten, wobei Hörspielkompositionen in der Regel einmalig abgegolten werden. Nach heutigem Stand wären für die Wiederholung eines Hörspiels, das vor 1963 urgesendet wurde, nur noch die Autorenrechte abzugelten. Ist der Autor aber seit 70 Jahren tot, fallen selbst die weg und man kann das Hörspiel völlig kostenfrei senden. Nicht mal das Pausenzeichen – auch so ein verschwundener Programmbestandteil – wäre billiger.

Alte Avantgarden

Das Urheberrecht war denn auch nicht ganz unschuldig an dem wohl größten Hörspiel-Event des vergangenen Jahres: der 22-stündigen Hörspielfassung des „Ulysses“ von James Joyce (1882 bis 1941), dessen Werke 2011 rechtefrei wurden. Die von Klaus Buhlert im Auftrag des SWR und in Kooperation mit dem Deutschlandfunk realisierte Produktion heimste denn auch nicht nur den Preis der „HR 2 Hörbuch-Bestenliste“ als Hörbuch des Jahres und den Deutschen Hörbuchpreis ein, sondern bescherte dem Radio auch einmal ein gigantisches Presseecho.

Für eine der größeren Überraschungen im vergangenen Hörspieljahr sorgte denn auch, dass der Publikumspreis bei den ARD-Hörspieltagen an das wohl anspruchsvollste Stück im Wettbewerb ging: „Wann Wo oder eine gewisse Anzahl Gespräche“ (HR) nach Texten des russischen Futuristen Aleksandr Vvedenskij (1904 bis 1941). Oliver Sturm als Bearbeiter und Regisseur konnte in seinen Dankesworten stolz feststellen, dass Kunst im Radio offenbar gewollt wird. Die Karlsruher Kritikerjury erwähnte die Produktion lobend und zeichnete Hermann Bohlens Stück „Alfred C. – Aus dem Leben eines Getreidehändlers“ mit dem Deutschen Hörspielpreis der ARD aus.

Doch nicht nur die toten, mehr oder weniger kanonisierten Avantgardisten kamen im Jahr 2012 zu Ehren. Ferdinand Kriwet, einer der ersten Mixed-Media-Künstler Deutschlands und Wegbereiter des Neuen Hörspiels, inszenierte zu seinem 70. Geburtstag mit einem sehr jungen Ensemble 50 Jahre nach Erscheinen seinen Erstlingsroman „Rotor“ für das Deutschlandradio Kultur. Was ursprünglich ein interpunktions- und absatzloser Fließtext in Romanform war, wurde als „Rotoradio“ (so der Hörspieltitel) zu einem viel- und doch einstimmigen Chor der Erinnerung an eine Jugend im Internat. Fast 30 Jahre nach seinem letzten Hörspiel bewies Kriwet, dass er es immer noch kann, auch wenn er sich selbst als „völlig retro“ bezeichnet. Was nicht ganz falsch ist, aber den Blick darauf verstellen könnte, dass seine experimentelle Schreibweise erstaunlich frisch und offen für unterschiedlichste Formen der Adaption ist. Im Jahr zuvor hatte Michael Lentz „Rotor“ schon für den Bayerischen Rundfunk (BR) verhörspielt (vgl FK 19/11).

Beeindruckende Debüts

Eine sozusagen unterirdische Verbindung von Kriwets ganz der Moderne der 1960er Jahre verhaftetem Stück besteht zum Hörspiel einer sehr gegenwärtigen Moderne, dem Debüthörspiel „Hund wohin gehen wir“ (WDR) von Anne Lepper, die von den Kritikern der Zeitschrift „Theater heute“ zur Nachwuchsdramatikerin des Jahres 2012 gewählt wurde. Nicht nur, dass das der Ort der Handlung – ein Internat – der gleiche ist, auch die Frage nach der „allermodernsten Moderne“, die Kriwets Roman implizit stellte, wird in Anne Leppers Stück ganz explizit formuliert. Während in „Rotor“ jedoch die Zentrifugal- und Zentripetalkräfte in einem fragilen Gleichgewicht gehalten werden, treffen in „Hund wohin gehen wir“ die Vertreter der Moderne und ihre reaktionären Widersacher unter der beeindruckenden Regie von Claudia Johanna Leist frontal aufeinander. Leider wurde diese Produktion nicht für das Hörspiel des Monats eingereicht.

Es sollte nicht das einzige Debüt sein – und nicht der einzige Theatertext, der auf der „Hörspielbühne“ den angemessenen Platz fand und weswegen es sich lohnt, sich an das Hörspieljahr 2012 zu erinnern. Wolfram Hölls (schreib)maschi¬nenschriftliches Manuskript „Und dann“ ist vom Deutschlandradio beim Stückemarkt des Berliner Theatertreffens entdeckt worden, und wenn man die radiophone Inszenierung von Cordula Dickmeiß gehört hat, weiß man, dass der Text im akustischen Medium seine Bestimmung gefunden hat. Mit präzisen minimalistischen Mittel und viel Weißraum um seine Wortreihungen erzählt Wolfram Höll aus der Perspektive eines (nicht-naturalistisch inszenierten) Brüderpärchens im Grundschulalter von den Umwälzungen der deutsch-deutschen Wendezeit. Die Straße wird ihrer primären Funktion nach bezeichnet, nämlich als „panzerparadenlangestraße“. Die Familie wohnt in einem ähnlich funktionalen Gebäude, in einem „dieganzestraßelangisteshaus“.

Die beiden letztgenannten Texte kommen aus einer modernen literarischen Theatertradition, die auf das Wort (Höll) oder den pointierten Dialog (Lepper) setzt. Doch auch andere Stücke wie zum Beispiel „Domino“ (MDR), Christoph Buggerts kühl komponierte Reflexion über die Gewaltförmigkeit von (auch familiären) Beziehungsgeflechten, gehören in die Reihe literarischer Hörspiele, ebenso wie Heinz von Cramers schwarze Komödie „Unerwartete Ereignisse“ (HR). Selbst „Ovale Fenster“ (SWR), der mit den Sounds des ‘Kammerflimmer Kollektiefs’ klangkünstlerisch ambitionierte „Hirnwettlauf im Allerhörbarsten“ von Thomas Weber und Volker Zander nach Texten von Hermann von Helmholtz und Dietmar Dath, gehört letztendlich in den Bereich des literarischen Hörspiels.

Ebenso wenig naturalistisch, wie die Brüder in Wolfram Hölls Hörspiel daherkommen, hat Walter Adler die lyrischen und philosophischen Texte des autistischen Brüderpaars Konstantin und Kornelius Keulen inszeniert: In Gesine Schmidts featureartigem Hörspiel „Oops, wrong planet!“ (Deutschlandfunk/WDR) wurden ihre Texte in der immer gleichen Sprechhaltung Wort für Wort in umgekehrter Reihenfolge aufgenommen und im Schnitt wieder in der richtigen Reihenfolge zusammengesetzt. So einfach der Trick und so aufwändig seine Realisierung, umso umwerfender seine Wirkung.

Neue Formen des Dokumentarischen

Die Rückbesinnung auf literarische Formen, die explizit radiophon gedacht werden und nichts mit den allgegenwärtigen Romanverhörspielungen zu tun haben, ergänzte 2012 die in den vergangenen Jahren im Hörspiel immer wieder gerne benutzten Formen des Dokumentarischen. Ohne den Studiengang für Angewandte Theaterwissenschaft an der Universität Gießen wäre das im Übrigen nicht denkbar. Rimini Protokoll, Hofmann & Lindholm sowie She She Pop kommen aus dieser Schule. Letztere wurden für ihr auf einem Theaterprojekt basierendem Hörspiel „Testament – Verspätete Vorbereitungen zum Generationswechsel nach Lear“ 2012 mit dem Hörspielpreis der Kriegsblinden ausgezeichnet. Anders als die Pioniere des Dokumentarischen, die vor 40 Jahren im Rahmen des Neuen Hörspiels den O-Ton als Beglaubigungsmittel für Authentizität, ja sogar für Echtheit und Wahrheit benutzt hatten, stehen gegenwärtige Autoren auf einer anderen Stufe der Medienentwicklung. Sie wissen, dass sich das Authentische in dem Moment verflüchtigt, in dem ein Mikrofon ins Spiel kommt, und so gehen sie mit dokumentarischem Material wesentlich reflektierter um.

Katrin Moll hat für ihre Inszenierung der „Gaza-Monologe“ (Deutschlandradio Kultur) die Texte der Jugendlichen aus dem Gaza-Streifen von Berliner Jugendlichen sprechen lassen. Die Lebenswelten könnten entfernter nicht sein und doch bzw. gerade deswegen funktioniert das Spiel mit den Differenzen in der Wahrnehmung des Hörers. Auch Gernot Grünwalds Hörspiel „Dreileben“ (RBB/Deutschlandradio Kultur), in dem es um das Sterben geht, ist ein Meisterstück in der Inszenierung von Differenzen. Hier unter anderem der Differenz von wirklich todtraurigen bis hochdramatischen Lebensverhältnissen, die auf eine Art erzählt werden, die weder mitleidig noch gewollt lakonisch von den Sterbenden erzählt, sondern engagiert, interessiert und, ja, lebensbejahend. Das Stück wurde nur deshalb nicht zum Hörspiel des Monats gewählt, weil es gegen Wolfram Hölls „Und dann“ konkurrieren musste.

Das Liquid Penguin Ensemble, das schon mit seiner sehr charmanten Fiktion über akustische Feldforschung („Gras wachsen hören“) begeistert hatte, ist seiner Arbeitsweise treu geblieben. Im neuen Stück „Radio Élysée. Aus Geschichte und Zukunft zweier Raumfahrernationen“ wird der Elysée-Vertrag mit dem die deutsch-französische Freundschaft begründet wurde, als Handlungsanweisung für eine Fluxus-Aktion interpretiert.

Vergleichbar souverän im Umgang mit Authentizitätsanmutungen war nur noch Ulrich Bassenges Hörspiel „Bier auf dem Teppich“ (WDR), das angelegt war wie das Format einer fiktiven Doku-Soap aus dem nachmittäglichen Privatfernsehen. Das Stück über den Zerfall einer Amateurband, das mit improvisierenden Musikern inszeniert wurde, haben wir glatt vergessen, im Mai lobend zu erwähnen. Aus der anderen Richtung, nämlich vom Kulturradio her, kommt Gabi Schaffners im „Universum finnischer Motorenmusik“ angesiedelte Fake-Doku „Otto Möto“ (HR), in der es um den Einfluss der Sounds von finnischen Traktoren und Gartengeräten auf die Neue Musik in ganz Europa geht. Die Feature-Form ist hier jedoch nur ein Vorwand für die Präsentation mitreißender Geräuschmusik.

Hörspiel des Jahres

Was bleibt vom Hörspieljahr 2012 in Erinnerung? Die sehr beeindruckenden Debüts von Anne Lepper und Wolfram Höll und die erfreulich produktive Auseinandersetzung mit Konzepten der Modernität der 1960er Jahre. Würde man eine Hörspielabteilung des Jahres wählen, wäre es für 2012 die des Deutschlandradios. Alle vier Dramaturginnen von Deutschlandradio Kultur und Deutschlandfunk waren an Hörspielen beteiligt, die herausragende Beispiele ihrer jeweiligen Genres waren: Stefanie Hoster an „Und dann“, Ulrike Brinkmann an „Rotoradio“, Barbara Gerland an „Die Gaza-Monologe“ und Elisabeth Panknin an „Oops, wrong planet!“.

Zum Hörspiel des Jahres 2012 wurde dann aber ein Stück des Bayerischen Rundfunks gewählt: Felix Kubins Hörspiel „Orphée Mécanique“, eine Produktion (Dramaturgie Katarina Agathos/BR), die sich an den Ursprung der akustischen Kunst überhaupt begibt, den Orpheus-Mythos, und ihn in einem sehr gegenwärtigen Mediensetting neu interpretiert. Kubins mechanischer Orpheus ist ein gedächtnisloser Apparat am Rande der Ewigkeit, ein Platte, die immer wieder zum Anfang zurückspringt und zwischen Melancholie und den traumhaften Medienwelten der Liebe oszilliert. Seine Euridike heißt Eura, denn eine Vorlage für Kubins Stück war der Popart-Comic „Orphi und Eura“ von Dino Buzzati. Aus der Verschmelzung mit Eura erträumt Orpheus sich eine vollkommen neue Existenz, nicht als „Orpheuria“, sondern als „Euphoria“.

Doch es kommt wie es kommen muss, Eura verschwindet und im Reich der Schatten erfreuen sich die Toten an Orpheus’ Gesängen, die stark auf die musikalische Sozialisation von Felix Kubin (Jahrgang 1969) mit der Neuen Deutschen Welle verweisen. Und Hörspiele, aus denen man Hit-Singles auskoppeln könnte, gibt es nicht viele. „Orphée Mécanique“ basiert außerdem auf Kubins noch sehr linear erzähltem Hörspiel „Orpheus’ Psykotron“ aus dem Jahr 2006, in dem Traugott Buhre den Wächter der Hölle spielt. Auch er ist jetzt nur noch als Tonbandstimme zu hören, denn Traugott Buhre ist 2009 gestorben. Ein Einbruch der Realität in das Spiel und ein Einbruch von Endlichkeit in die zyklische Wiederholungsschleife, in der sich Orpheus befindet und die nur deshalb erträglich ist, weil er sich an die unzähligen vergangenen Durchläufe nicht erinnert.

Gegen eine starke Konkurrenz konnte sich diese Stück letztendlich durchsetzen, weil es die meisten Schnittstellen zu musikalischen, literarischen, medialen und hörspielästhetischen Diskursen bot – ohne dabei verkopft rüberzukommen. Im Gegenteil: Das Stück drängt quasi permanent nach vorne und funktioniert auch auf einer Live-Bühne, wie man es bei den ARD-Hörspieltagen 2012 mit Felix Kubin an der Elektronik, Steve Heather am Schlagzeug und Lars Rudolph, der auch den Sprechpart übernahm, an der Trompete hören konnte. Und eines kann man diesem Stück bestimmt nicht vorwerfen: Hasenfüßigkeit.

Jochen Meißner – Funkkorrespondenz 08/2013

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