Paradoxien des Authentischen

Philipp Stange: Great Depressions

HR 2 Kultur, Sa, 23.00-23.30 Uhr

Wie stellt man einen depressiven Zustand her, wenn der gerade darin besteht, dass man ihn nicht herstellen kann? Dieser Paradoxie widmet sich Jan Philipp Stange in seinem Hörspiel „Great Depressions“ nach dem gleichnamigen Theaterstück.

Es beginnt mit einer Fluchtbewegung. Der Protagonist läuft durch einen Wald, Grillen zirpen und später gluckert ein Fluss vorbei. Doch erst einmal stellt sich der eben noch Rennende als Malte Scholz vor und erzählt seinen beruflichen Werdegang, vom Programmierer über diverse Nebenjobs bis hin zum Studium der Theaterwissenschaften in Frankfurt und Gießen. Malte Scholz, das ist auch der Name des Schauspielers, der die Geschichte erzählt. Will heißen, wir scheinen es hier mit autofiktionalem Erzählen zu tun zu haben. Aber die Sache ist komplizierter, weil Selbst als Träger des Autofiktionalen problematisch wird.

Nach einem harten Schnitt ins trockene Tonstudio stellt Malte Scholz die entscheidende Frage, nämlich die, was denn wirklich das Beste sei, was man in den nächsten 40 bis 50 oder 30 bis 40 Minuten hier herausholen könne – wenn man sich davon frei gemacht habe, etwas produzieren zu müssen. Nach 29 Minuten und 26 Sekunden werden wir es wissen, denn so lange dauert das Hörspiel letztendlich, das am 25. Juni um 23 Uhr auf HR 2 Kultur ausgestrahlt wurde. Ergänzt wird das Stück um ein Gespräch des Regisseurs Léon Haase mit der Schweizer Psychoanalytikerin Marianne Leuzinger-Bohleber.

Man ahnt schon, dass es bei „Great Depressions“ nicht um die Weltwirtschaftskrisen der 1930er-Jahre geht, sondern um das Krankheitsbild, das mit dem Druck der Ökonomie zu tun hat. Es geht darum, dem Druck auszuweichen, ständig etwas produzieren zu müssen, und darum, statt eines Hörspiels einen depressiven Zustand zu demonstrieren – was natürlich an der Paradoxie scheitert, einen depressiven Zustand erst herstellen zu müssen, um ihn jemandem als Hörspiel vorführen zu können.

Die Frage, wie gut man etwas schlecht spielen muss, um als authentisch zu gelten, ist nur eine andere Facette dieser paradoxalen Grundkonstruktion, die in der Technik der Aufspaltung der eigenen Persönlichkeit in das Selbst und einen Schattenmenschen – einen Daimon – kulminiert.

Auf einer zweiten Ebene erzählt eine kindliche Stimme (Judith Altmeyer) von einer Höhle, in der sie auf die sprichwörtlichen Neandertaler trifft. Doch plötzlich findet sich auch Malte Scholz in dieser akustischen Kulisse wieder und erzählt vom Suizid seines Bruders kurz nach dessen 40. Geburtstag. Malte Scholz ist jetzt 42 Jahre alt und damit vom jüngeren Bruder zum älteren geworden. Die Fantasie über die Neandertaler stammt aus einem Aufsatz des toten Bruders, den der im Alter von zehn Jahren geschrieben hatte.

Léon Haase, der das Stück als sein Hörspielregiedebüt inszeniert hat, setzt auf den Wechsel von illusionistischem Naturalismus zur Tonstudio-Neutralität, die hier paradoxerweise einen ebenso naturalistischen Charakter bekommt. Es ist eine Art akustischer Kulissenschieberei, vor der sich Malte Scholz seiner Gefühle entäußert, indem er ihre Abspaltung demonstriert und reflektiert. In seinen Schlusssätzen fällt er dann gar nicht mal so sehr aus der Rolle: „Das war jetzt nicht perfekt, nein, also das war noch nicht mal richtig gut, aber zumindest war der Versuch authentisch.“ Kann man so sagen, weil es der Sperrigkeit des Textes und dem in ihm angekündigten Scheitern ziemlich genau entspricht.

Jochen Meißner – KNA Mediendienst, 30.6.2022

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