Narrativ oder Narration

Der Kölner Kongress 2023 über das Erzählen in den Medien

Seit 2017 gibt es den „Kölner Kongress“ über das Erzählen in den Medien. Nach einer pandemiebedingten Digitalausgabe lud das Deutschlandradio am 3. und 4. März unter dem Motto „Auserzählt? – Von Krisen und Neuerfindungen des Erzählens“ wieder in das Funkhaus am Raderberggürtel ein. Vier Vorträge sind auch auf dem sonntäglichen Sendeplatz „Essay und Diskurs“ um 9.30 Uhr im Deutschlandfunk zu hören. Daniel Schreiber beschäftigte sich mit dem autofiktionalen „Erzählen des Ichs“, Angela Steidele erzählte „Von leeren Blättern und Literatur ohne Narrativ“, Kathrin Röggla bewegte sich „Im Auserzählten“ und Ronya Othmann stellte klar: „Die Gewalt ist keine Metapher.“ In einem anderen Vortragssaal ging es unter dem Motto „Nacherzählt“ um Archive und Narrationen. Bei der Tagung wurde auch das Hörspiel des Jahres der Deutschen Akademie der Darstellenden Künste ausgezeichnet. Der Preis ging an das autofiktionale Stück „Pisten“ der senegalisch-ivorischen Autorin Penda Diouf (Kritk hier).

Wer erzählt denn da?

In seinem Eröffnungsvortrag „Das Erzählen des Ichs“ stellte Daniel Schreiber fest, dass das lange als „verdächtig“ geltende Ich mittlerweile als Ausweis einer emanzipativen Bewegung und einer Abkehr von der Figur des auktorialen Welterklärers wieder einen Aufschwung erlebe. Dies zeige sich an der „großen Lesendenschaft“, die AutorInnen von Annie Ernaux bis Kim de l’Horizon derzeit fänden (merke, auch grammatikalisch Weibliches muss noch partizipial neutralisiert werden).

Mit der Perspektive autofiktionaler oder nonfiktionaler Ich-Erzählungen würden die „inneren Mauern“ der Autorinnen und Autoren reflektiert, „rassistische, misogyne, antisemitische, ableistische, homo-, trans- und islamophobe Mauern“, führte der Schriftsteller aus. Schreiber,
der für seinen Vortrag große Teile seines bereits am 15. Oktober 2019 in der Wochenzeitung „Die Zeit“ veröffentlichten Essays „Ich will Ich“ recycelte, schließt seine Werke da ein, auch wenn es ihm widerstrebe, diese Geschichte erzählen zu müssen, weil er sich erst durch das Erzählen seiner Geschichte einen Platz in der Gesellschaft erarbeiten könne.

Gegenerzählungen helfen nicht weiter

Angela Steidele, die in ihren Biografien (beispielsweise in der über die emanzipierte Reaktionärin Anne Lister im viktorianischen England) auch ihren Standpunkt zu reflektieren weiß, beschrieb in ihrem Vortrag „Von leeren Blättern“ eine Literatur ohne Narrativ. Der Begriff Narrativ stammt nicht aus der Literatur-, sondern aus der Sozialwissenschaft, er bezeichnet eine Erzählung, die eine Gruppe, eine Bewegung, eine Partei eint. „Das Narrativ ergreift Herz und Hirn seiner Anhänger und schwört sie stark emotionalisiert auf eine Denkordnung ein“, sagte Steidele. Dafür brauche es einen Erzähler.

In totalitären Gesellschaften sorgten Polizei und Geheimdienste dafür, dass alle dasselbe erzählen. Deshalb vertrügen sich Narrative nicht mit einer freien und unabhängigen Presse. Auch deshalb werde diese von radikalisierten Konservativen, von Ungarn bis Polen, von den britischen Torys bis zu den US-amerikanischen Republikanern verstärkt bekämpft, erklärte Steidele. Parallel dazu habe die Digitalisierung der (sozialen) Medien das kontrafaktische Erzählen entfesselt.

Gegenerzählungen helfen in totalitären Regimes nicht weiter. Deshalb unterläuft dort, wo sich die Opposition nicht artikulieren darf, eine andere Strategie die Narrative subversiv: das Vorzeigen weißer Blätter. Während in Ländern mit freier Öffentlichkeit jedes in die Kamera gehaltene Blatt sofort per Photoshop memefiziert wird, wissen die Sicherheitsbehörden narrativ legitimierter Staaten genau, was auf den weißen Blätter nicht steht, nämlich einerseits potenziell alles – was ihre Lügen entlarven könnte – und gleichzeitig nichts – was die Unmöglichkeit freier Äußerungen besser illustriert, als es jeder Satz oder jedes Bild könnte.

Doch das war nur die eine Hälfte der Analyse der Verhältnisse. Im zweiten Teil ihres Essays widmete sich Angela Steidele der Literatur, die sich paradoxerweise in Opposition zu den oft schlecht erzählten Narrativen setzt, indem sie auf die Wirklichkeit in einem dokumentarisch beglaubigenden Sinne setzt.

Erika Runge war mit ihren „Bottroper Protokollen“ aus dem Jahr 1968 eine prominente Vorläuferin der dokumentarischen Literatur. Im Gegensatz zu den gegenwärtig aus ihrer individuellen Betroffenheit schreibenden Autoren (Steidele erwähnte die gleichen Namen wie Daniel Schreiber) stellte sich Erika Runge aber nicht vor ihren Gegenstand. Denn, so Steidele, von Sappho, die 600 Jahre vor Christus zum ersten Mal „Ich“ gesagt hat, über Grimmelshausens Simplizius Simplizissimus bis zu Grass’ Oskar Matzerath müssen wir den Erzähler vom Autor unterscheiden.

In der Tat muss man einen erheblichen rhetorischen und literarischen Aufwand betreiben, um so authentisch wie möglich zu wirken. Waren die Konfessionen des Augustinus für Daniel Schreiber noch „der Soundtrack zur Christianisierung des Selbst“, sind es für Steidele „hochartifizielle Sprachgebilde, die rhetorisch versiert glauben machen, wir bekämen schonungslose Selbstanalysen zu lesen“. Die Forschung habe längst herausgefunden, was da alles weggelassen und hinzugedichtet und wie trickreich das theoretische Programm verkleidet worden sei.

Wo bleibt die Wirktlichkeit?

Ihren Überdruss an Nachrichten aus dem „Auserzählten“ brachte Kathrin Röggla zum Ausdruck, die sich explizit nicht als „Geschichtenerzählerin“ versteht, obwohl sie Autorin ist. Sie wandte sich in ihrem Vortrag Gegen die Storyfizierung der Realität. Narrative sind für sie sinnstiftende Erzählstrukturen und soziale oder epistemische Erzählungen, die Schemata der Welterfassung darstellen. Aber durch seine Inflationierung sei der Begriff entleert: „Wir sagen heute ’Narrativ‘, wo wir früher Ideologie meinten. Dieser Begriff funktioniert wie ein Platzhalter für einen Zusammenhang, weil er das Gewebe, die Struktur, in der er funktioniert, nicht zeigt.“

Nicht alles, was berichtenswert ist, ist in die Form einer „Story“ zu pressen, denn als Narration seien das Reale und seine Schrecken nicht zu fassen beziehungsweise sie seien „auserzählt“, führte Röggla aus. Jeder kennt die Geschichten der Apokalypse seit der Bibel – es ist eine im Doppelsinn „erschöpfte“ Erzählung. Warum? Weil die Katastrophe sich verstetigt hat und: „Nichts, das einen Unterschied machen könnte, geschieht mehr. Und bei Geschichten, denen man zuhört, ist der Unterschied, der zu machen ist, wesentlich.“

Vielleicht funktionieren deshalb die Gegenerzählungen der Klimaleugner noch, weil sie „erst zur Gänze dementieren und dann nach und nach in unlogischer Weise weitermachen“, mutmaßte Röggla: „Realismus würde hier bedeuten, nicht anschlussfähige Erzählungen zu schreiben, denn die Klimakrise ist auch nicht sehr anschlussfähig.“ Ironischerweise erfüllen aber auch die oft schlecht erzählten Geschichten der Klimaleugnerlobby formal Rögglas Forderung der „Nichtanschlussfähigkeit“, weshalb sie auch immer bizarrer und absurder werden müssen.

Die Bilder im Kopf

Wer in welcher Form an die Mittel und Methoden der Gräuelpropaganda anschließt, konnte man im Vortrag „Gewalt ist keine Metapher“ der Schriftstellerin und Journalistin Ronya Othmann hören. Das Video von der grausamen Ermordung des jordanischen Piloten Muath al-Kasasbeh, der in einem Käfig bei lebendigem Leib verbrannt wurde, wurde von einer Mörderbande, die von einem extremistischen Narrativ getrieben wurde und sich Islamischer Staat (IS) nannte, in Umlauf gebracht. „Die Bilder sind hier nicht Ausdrucksmittel, sondern
Zweck der Tötung. Das Opfer musste sterben, damit die Aufnahmen entstehen konnten. Sein Tod ist die Bedingung für ihre Existenz“, zitierte Othmann die Kunsthistorikerin Charlotte Klonk. Auch wenn der IS natürlich auch ohne Kamerabegleitung grausam folterte
und mordete.

Bis auf den amerikanischen Sender Fox News, der das Video auf seine Website stellte, zeigten westliche Medien diese Bewegtbilder nicht. Mussten sie auch nicht, denn je ausführlicher ihr Inhalt beschrieben wurde, desto mehr konnte auf die tatsächlichen Bilder verzichtet werden. Die Propaganda der Bilder im Kopf, die des „Kinos der Mörder“ funktionierte auch so. Parallel zum inszenierten und geprobten „Kino der Mörder“ gibt es aber auch ein „Kino der Opfer“. Meist sind das verwackelte Handyvideos, die Verbrechen und schwere Verletzungen der Menschenrechte nachweisen.

Abseits von der zu wahrenden Würde der Opfer und ihren Persönlichkeitsrechten fragte sich Ronya Othmann, wie man medienethisch mit diesen Bildern verfahren kann: „In der Frage nach dem richtigen Umgang mit Gewaltbildern störe ich mich schon an dem Wort ’Umgang’. Als ob es einen Umgang gäbe, als ob man damit ’umgehen’ könnte.“ Sie kommt zu keiner eindeutigen Antwort, außer der, dass ein Gerichtssaal der richtige Ort sei, der solche Dokumente nicht als Medienbilder präsentiert, sondern als Beweismittel.

Einen ähnlichen Status haben dokumentarische Bilder, die das Assad-Regime von seinen Folteropfern machen ließ. Sie waren nie für die Öffentlichkeit bestimmt, sondern dienten als aktenförmige Belege für ausgeführte Aufträge und wurden nur deshalb publik, weil der Militärfotograf „Caesar“ sie vor seiner Flucht heimlich auf einen USB-Stick kopiert hatte.

Nebenbei erwähnte Ronya Othmann noch eine Verschiebung im Mediendiskurs, der unter dem Label „Triggerwarnung“ oder „Content Note“ firmiert und den Betrachter vor sogenannten sensiblen Inhalten schützen soll: „Wenn man jetzt zynisch wäre, könnte man sagen, die Betrachter sind zu einer Opfergruppe mutiert.“

Die Jagd nach dem Narrativ

Wie man die Hörerschaft anspricht, war Thema des Vortrags der WDR-Investigativjournalistin Katja Riedel und des Podcastproduzenten und -coaches Sven Preger. Für ihre fünfteilige Podcastreihe „Die Jagd“ haben sie 40.000 Chatnachrichten der AfD-Bundestagsfraktion ausgewertet, um herauszufinden, wie die Partei tickt. Sie gaben interessante Einblicke in den  Produktionsprozess, bei dem die Journalisten immer darauf bestanden, dass die erzählerisch-dramaturgischen Konventionen nie die Fakten schlagen dürfen. Was nicht exakt belegbar ist,
darf man nicht der erzählerischen Form unterordnen, auch wenn sie noch so plausibel ist.

Sven Preger bezifferte das Verhältnis von journalistischem Narrativ zu Narration auf 51 zu 49 Prozent – eine im Zahlenverhältnis vielleicht nicht ganz so glückliche Analogie, die besagt, dass die Narration nicht das Narrativ schlagen darf, auch wenn sich hier die Begriffe immer mehr ins Ungefähre verflüchtigen.

Dass im Podcast das Ich des Hosts oder Presenters besonders im Fokus steht, legitimierte Preger mit der Formel des „Sich-ehrlich-Machens“, indem man seine Position und seine Perspektive offenlegt und transparent macht: Mit der Formel „Ich als hetero-/homosexuelle /r weiße/r (Cis-)Mann/Frau usw. usf.“ wirft man sich zugleich in Pose. Als sei das Ich eine unhintergehbare Konstante, die nie eine andere Perspektive entwickeln könne.

Nicht jeder Journalist und nicht jede Journalistin ist so reflektiert im Umgang mit dem Ich als Konstrukt und eigenen blinden Flecken wie eine Angela Steidele. Denn warum sollte ausgerechnet das eigene Ich eine objektive Instanz gegenüber dem Selbst sein?

Dass die schon vorher ausformulierten Vorträge gleichsam spontan aufeinander reagierten und miteinander kommunizierten, war offensichtlich Ergebnis einer klugen Tagungskonzeption und -regie. Die Erschöpfung am Ende des Kongresses kam jedenfalls nicht von der Ermüdung, sondern resultierte aus der in Köln präsentierten Gedankenfülle, die Eingang in die Archive finden wird, um dann wieder nacherzählt zu werden. Insgesamt eine informative und genussreiche Überforderung, wie sie dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk gut ansteht. 

Jochen Meißner – epd medien Nr. 11, 17.03.2023

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