Masse ist Elite
Ernst Toller: Masse – Mensch
NDR Kultur, Mi 22.05.2019, 20.00 bis 20.55 Uhr
Als Ernst Tollers Drama „Masse – Mensch. Ein Stück aus der sozialen Revolution des 20. Jahrhunderts“ seine Premiere in Berlin erlebte, hatte er gerade einen Hungerstreik beendet, wie er in seiner Autobiografie „Eine Jugend in Deutschland“ berichtet. Toller saß wegen Hochverrats für vier Jahre im Gefängnis Niederschönenfeld, weil er einer der führenden Köpfe der Münchner Räterepublik vom April 1919 war. Er war nur knapp der Todesstrafe entgangen. Später wurden seine Bücher von den Nazis verbrannt und er floh nach Amerika, wo er sich 1939 das Leben nahm. Toller gilt als Vertreter der „engagierten Literatur“ an der Schwelle von Expressionismus und Neuer Sachlichkeit.
In seiner Autobiografie beschrieb Toller, was das dialektische Verhältnis von Masse und Mensch ausmacht so: „Als Individuum handelt der Mensch nach der als Recht erkannten moralischen Idee. Als Masse wird er getrieben von sozialen Impulsen. Das Ziel will er erreichen, auch wenn er die moralische Idee aufgeben muss. Unlösbar erscheint mir dieser Widerspruch, ich suche ihn zu formen. So entsteht mein Drama Masse – Mensch.“ Was Ernst Toller 1919 in wenigen Tagen zu Papier gebracht hat, befragen einhundert Jahre nach dessen Entstehung Ben Neumann (Bearbeitung) und Christoph Kalkowski (Regie) in ihrer 55-minütigen Hörspielinszenierung auf seine Tauglichkeit für die Gegenwart.
Protagonistin von „Masse – Mensch“ ist Sonja Irene L (Jana Schulz), die Toller nach dem Vorbild der pazifistischen Aktivistin Sonja Lerch gestaltet hat. Das Stück beginnt mit dem Konflikt mit ihrem Mann, der sich wegen ihres politischen Engagements scheiden lässt. Doch dieser Konflikt ist nur ein Nebenkriegsschauplatz. Die Hauptkontroverse findet zwischen der im Hörspiel unbenannt bleibenden Sonja Lerch („Die Frau“) und ihrem explizit als „Der Namenlose“ (Rüdiger Klink) gekennzeichneten Gegenspieler statt. Als Sprecher der Masse klagt er die römischen Patrizier wie die amerikanischen Sklavenhändler an, die über Leichen gehen würden, um ihre Vorrechte und ihre Macht zu verteidigen. Christoph Kalkowski inszeniert den Sound des Krieges der Reichen gegen die Armen als orgiastisches Börsenspektakel. Die Spielhandlung des Hörspiels lehnt sich lose an das Drama um die Münchner Räterepublik an, ohne dass es auf die genauen Umstände ankäme. So einig man sich über die Ziele des Umsturzes ist, so kontrovers werden die Mittel diskutiert. Der Namenlose liebt „den künftigen Menschen“ und ist bereit, dafür die gegenwärtigen zu opfern, natürlich auch die eigenen Leute, so sie sich gegen die reine Lehre versündigt haben. Die Frau hingegen äußert ihre moralischen Zweifel an den Geiselerschießungen, für die sie später unschuldig zum Tode verurteilt werden wird: „Ich rufe: Zerbrecht das System. Sie aber wollen Menschen zerbrechen.“
Was diesen Konflikt aus dem Jahr 1919 von den gegenwärtigen unterscheidet, hat Bearbeiter Ben Neumann in eine Figur oder besser: in eine kommentierende Instanz gefasst, die im Abspann etwas grobschlächtig als „Terror“ identifiziert wird. Gesprochen von Jutta Wachowiak erscheint dieser „Terror“ als libertäre, marktradikale und disruptive Kraft, die mindestens genauso staatsfeindlich ist, wie es die revolutionären Sprechchöre der Studenten der Schauspielhochschule Ernst Busch sind, die stimmlich für den nötigen revolutionären Drive sorgen: „Kein Zögern mehr mit jenen Herren! In die Maschinen Dynamit!“ Doch am Ende des Hörspiels steht die Devise der Disruption: „Solange Sie jung sind und noch Kraft haben, zerstören Sie diese Welt!“ Diese im Stil eines Motivationstrainers vorgetragenen Maximen sind den agitatorischen Sprüchen des Namenlosen erschreckend ähnlich. Masse und Elite fallen in eins, während der „Mensch“ für beide nur ausbeutbare Ressource ist.
Dem gegenüber steht das expressionistische „Oh, Mensch!“-Pathos der Selbstopferung, das in Kalkowskis musikalisch opulent orchestrierter Hörspielfassung immer wieder durchscheint. Die gegenwärtige junge Generation weiß damit im Stück hörbar wenig anzufangen. „Wer lässt sich aus Prinzip erschießen?“, fragt sie sich verständnislos in einer dreimal wiederholten und dabei jedes Mal beschleunigten Passage. Eine berechtigte Frage in einer Zeit, in der „Prinzipien“ oder „Moral“ auch nur Buzzwords sind, die ihrer Opferung für die Perpetuierung des Systems der Profitmaximierung ein wenig Glanz verleihen sollen. Inwieweit „Masse“ und „Mensch“ noch Begriffe sind, mit denen sich die gegenwärtigen Konflikte beschreiben lassen, kann man nach dem rauschhaften Sog, den dieses Hörspiel entfaltet, neu diskutieren.
Jochen Meißner – Medienkorrespondenz /2019
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