Im optischen Sog

Albrecht Kunze: Stadt in Angst

SWR 2, Samstag, 22.10., 23.03 bis 0.18 Uhr

„Stadt in Angst“ ist der deutsche Titel des Films „Bad Day at Black Rock“ von John Sturges aus dem Jahr 1955. Das neue Stück des Frankfurter Musikers und Hörspielmachers Albrecht Kunze entwickelt auf dieser Folie ein unheimliches Stück permanenter Bedrohung.

„In diesem Moment stecke ich in einem Schutzanzug, der in einem Schutzanzug steckt, der in einem Schutzanzug steckt“, sagt Claudia (Claudia Splitt) in Albrecht Kunzes 75-minütigem Stück „Stadt in Angst“, und enger war wohl kaum einer der klaustrophobischen Räume, in die Kunze seine Figuren gesperrt hat. Vor sich sieht Claudia einen durch halbtransparente, farblose Plastikplanen verhüllten Ort, dessen Gebäude ebenso verpackt sind wie die behelfsmäßigen Barrikaden, die die Stadt durchschneiden und in labyrinthische Sektoren aufteilen.

Die „Stadt in Angst“ – die Bezeichnung wird oft wie ein Eigenname verwendet – ist der Ort, „wo die Angst umgeht und wo sich alles um Angst und Bedrohung dreht: um Angst, die aus Bedrohung entsteht, und das Bedrohliche von Angst“. Es ist die immer um Präzision bemühte Sprache von Albrecht Kunze, die alle Dimensionen der Begriffe auszuloten versucht, die er gebraucht.

Dabei verwendet Kunze in seinen Hörstücken immer wieder formelhaft die Wendungen „Die Sache ist eigentlich ganz einfach“ oder „Alles beginnt mit …“, um dann hochkomplexe Sachverhalte nicht etwa zu simplifizieren, sondern in einer nur ihm möglichen Form abzuhandeln – genau, intensiv und von Perspektiven aus, die man nicht erwarten hätte.

Das war schon in seiner Auseinandersetzung mit dem Thema Krieg in diversen Hörspielen so („Golfkrieg Girls & Boys“, „wie wir den Krieg gewannen“, „ich auf der Tretmine“), ebenso wie mit der Beschäftigung mit Körpern in Räumen („Das unsichtbare Dritte“) und mit Innenräumen der Körper („Die dunkle Seite des Mundes“).

In Kunzes neuem Stück sind beispielsweise die Paradoxien des Schutzanzuges ein Thema. Denn der darf nicht zu weit und nicht zu eng sein, weil er widersprüchlichen Anforderungen von Beweglichkeit und Schutz gerecht werden muss. Ein Thema, das auch Konsequenzen für die die Weltwahrnehmung (durch das zu kleine und unbewegliche Sichtfenster), wie auch für die Selbstwahrnehmung und die Kommunikation hat. Denn durch die dreifach gedämmte und an der Membran des Anzugs reflektierte Stimme wird die Trägerin sich selbst fremd, Innen- und Außenwahrnehmung verschwimmen.

Kunzes Geschichten, die damit beginnen, das man aufwacht und nicht weiß, wo man ist, sind immer ein Angriff auf das Ich, weil „das Ich im Sich oder Selbst nicht ohne einen Ort, eine Verortung zu erfassen ist – ganz einfach: weil das Ich an sich ja nicht greif- oder begreifbar ist“ (Hervorhebungen: Albrecht Kunze). Der Schrecken über die Ungesichertheit der eigenen Existenz wird im vorliegenden Stück sogar ins Bild grausam-kalter Folterkammern gehoben.

Auf seine Filmvorlage, die nicht inhaltlich, aber formal und atmosphärisch relevant wird, reagiert Kunze – der immer als Autor, Regisseur und Komponist seiner Stücke agiert – mit einer Analyse der Kamerablicke. Ebenso nimmt er immer auch die Bedingungen der akustischen Kunst – will heißen die Stimme, ihre Frequenzen und Reflexionen – in seinen analytisch Blick. Neben Claudia Splitt agieren in „Stadt in Angst“ Nikola Duric, Clemens Giebel, Marie Löcker, Karolina Seibold und Veit Sprenger unter ihren Vornamen.

Das Crescendo des repetitiven Soundtracks beschleunigt sich zu einem spiraligen Finale, das dann doch wieder in der Beschreibung einer Kamerafahrt mündet, die ihren Gegenstand umrundet – und man merkt, dass man die ganze Zeit des Hörspiels über einem optischen Sog ausgesetzt war, in dessen Zentrum man selbst stand.

Jochen Meißner – KNA Mediendienst, 20.10.2022

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